Der Trockene Tod. Alexander Köthe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Köthe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177211
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Händen zu und dreht den Toten auf den Rücken - und kann einen Schrei nur mit Mühe unterdrücken.

      Er kennt den Mann, lebendig, laut, betrunken.

      Er blickt auf das ungewöhnlich bleiche Gesicht, in die leblosen Augen von Benem, dem ungehobelten Trinker aus dem Gasthaus von vorhin. Seine gesamte Bauchdecke wurde brutal und grausam aufgerissen.

      Das war keine Klinge!

      Der Leichnam gleicht der Beute eines Rudels von Borsten-Hyänen, die sich im Blutrausch auf ihr Opfer gestürzt und den ungeschützten weichen Bauch förmlich zerrissen haben.

      Lu durchfährt ein eisiger Schauer, doch nach wenigen Augenblicken und einem leise, aber betont ausgesprochenen “Stop” kann er sich wieder fangen und fokussiert seinen Geist auf den toten Körper vor sich.

      Irgendetwas stimmt nicht.

      So schrecklich diese Wunde auch ist, nirgends ist ein einziger Tropfen Blut zu finden, weder auf dem Boden, noch an den Metallkisten oder dem Schuppen.

      Entweder die Wunde wurde dem Toten an einem anderen Ort zugefügt und der Kadaver hier weggeworfen - eine Tatsache, die mehr als unwahrscheinlich ist - oder …

      Lu hält einige Sekunden lang den Atem an.

      … es gibt kein Blut mehr in dem leblosen Körper. Es wurde geraubt.

      Der ‘Trockene Tod’.

      Hektisch untersucht Lu die Leiche, tastet den langsam hart werdenden Körper ab. Er öffnet die Überreste des Hemdes über der Brust, schiebt Hosenbeine und Ärmel hoch, um möglichst viel nackte Haut sehen zu können.

      Und dann findet er, wonach er gesucht hat: eine etwa handbreite Wunde am linken Unterarm. Die Haut ist aufgerissen, als hätte ein Raubtier seine Fänge in das zarte Fleisch geschlagen. Die Verletzung ist tief, bis zum Knochen und das rohe Fleisch ausgefranst.

      Das typische Muster. Der Mörder, die Bestie, hat den Lebenssaft seines Opfers ausgesaugt und die leblose Hülle danach fallen lassen. Der Rest, das Ausweiden, ist nichts anderes als Ablenkung und die Freude am Abschlachten.

      Ja, er wusste, dass Wesen wie Vampire nur eine Fantasie der ‘Alten Welt’ waren, vielleicht inspiriert von den damals lebenden Fledermäusen, die wirklich das Blut von Kühen oder Ziegen tranken. Aber Monster, die des Nachts Jagd auf Menschen machten und deren Blut tranken, um danach wieder in ihrer Gruft in einem Sarg zu verschwinden, um dem tödlichen Sonnenlicht zu entfliehen, das waren nur Schauergeschichten aus einer vergangenen Zeit.

      Und doch kannte er den ‘Trockenen Tod’. Seit nunmehr zwölf Jahren - seit seiner Begegnung mit IHR - stieß er immer wieder auf ihn, in der realen Welt, aber auch in seinen Träumen.

      Schnelle Schritte auf hartem Stein reißen Lu aus seinen Gedanken. Er blickt auf und sieht den Mann auf sich zukommen. Bevor dieser etwas von sich geben kann, sagt Lu mit fester, sicherer Stimme:

      “Jemand muss die Stadtwache verständigen.”

      Der Unbekannte stoppt abrupt, ohne zu antworten. Gebannt blickt er auf den Toten.

      Lu legt seine Hand auf die Schulter des Mannes und spricht in ruhigem Ton.

      “Hallo? Ihr? Die Stadtwache. Jemand muss die Stadtwache rufen.”

      Der Mann wendet seinen Blick zu Lu. Er wirkt verstört, verzweifelt und doch wieder gefasster.

      “Entschuldigt, mein Herr. Das ist nun schon der fünfte Tote innerhalb von zwei Wochen. Wann wird das endlich aufhören?”

      “Der fünfte Tote?”

      “Ja, mein Herr. Fünf Tote. Und alle wurden hier im Hafenviertel gefunden.”

      Der Arm des Mannes streckt sich, weist auf den verstümmelten Körper. Er schluckt.

      “Diesen hier hat meine Frau Irin entdeckt.”

      Die gerade zurückgekehrte Fassung des Mannes wankt. Ihm steht die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Tränen fließen seine Wangen hinab.

      “Wie heißt du?”

      Der Mann schaut Lu verblüfft an.

      “Ich? Ich heiße Pierens, mein Herr. Ich fische gelegentlich an der Sanzea, aber …”

      “Wie geht es deiner Frau?”

      “Ich … ich weiß es nicht, sie ist … Es ist einfach alles so schrecklich.”

      “Am besten ihr geht jetzt nach Hause.”

      “Ja, mein Herr, das wird das Beste sein.”

      “Aber verständigt bitte unterwegs die Stadtwache. Sie soll sich um den Toten kümmern.”

      Der Mann, Pierens, dreht sich ohne Abschied herum. Schnellen Schrittes geht er zu seiner Frau, nicht ohne noch einmal zu Lu und dem Toten zurückzublicken.

      “Ich werde so lange hier wachen, bis die Stadtwache kommt”, ruft Lu den beiden hinterher.

      Pierens antwortet nur mit einem knappen Kopfnicken. Als er bei Irin ankommt, legt er seinen Arm um sie. Gemeinsam verschwinden sie in einer kleinen dunklen Gasse.

      Lu steht noch einige Minuten neben dem Toten.

      Bist du es wirklich? Das abscheuliche Monster. Die grausame, todbringende, widernatürliche Kreatur. Bist du für die Morde verantwortlich?

      Lijerah!

      Diesen Namen - IHREN Namen - würde Lu niemals vergessen.

      Ich war dir immer auf den Fersen. Seit ich dir als Junge begegnet bin, träume ich von dir. Seit zwei Jahren bin ich nun so dicht hinter dir und doch war ich immer zu spät. Egal in welche Stadt ich kam, du hattest dein schreckliches Werk bereits getan und warst weitergezogen in unbekannte Ferne.

      Aber jetzt bist du hier. Und Hendrax verzeihe mir meine Gedanken, aber bitte bleibe noch und verbreite Unheil, Schrecken und den Tod - auf das ich meine Chance kriege, dich endlich zu vernichten.

      Ich hoffe, du bist es wirklich und erinnerst dich an mich.

      Laute, hochfrequente, schrille Laute rissen Lu aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Die kleinen blauen Schnapper, die zu Tausenden in den meisten größeren Städten hausten und alles fraßen, was ihren kleinen roten Schnäbeln mit den winzigen spitzen Zähnen zu nahe kam, waren zurück und trauten sich beachtlich nahe an ihn und die Leiche heran. Ihre flachen, länglichen Schuppen-Körper endeten in ebenso langen Schwänzen, die vor Ungeduld hin und her wippten. Die gelben Echsenaugen mit den schwarzen ovalen Pupillen ruhten in dreieckigen, mit drei kleinen Hörnern besetzen Köpfen und blickten gierig. Sie warteten nur darauf, sich auf ihre Beute, das frische, duftende Fleisch stürzen zu können.

      Lu schaute in die Richtung, in der Pierens und seine Frau gerade verschwunden waren.

      Eine leere, dunkle Gasse - noch.

      In wenigen Minuten würde ein Dutzend bewaffneter Männer durch diese Gasse stürmen. Männer, die für die Sicherheit dieser Stadt verantwortlich waren und nun die fünfte Leiche binnen weniger Tage finden würden.

      Vielleicht wäre es besser, nicht direkt an meinem ersten Tag in dieser Stadt Bekanntschaft mit der Stadtwache zu machen, dachte Lu.

      Fünf Todesfälle und er, Luhni Mahjos, als Fremder direkt neben einer Leiche. Das passte einfach zu gut für mögliche Spekulationen der Stadtwache, die mittlerweile - das kannte Lu schon aus ähnlichen Fällen in anderen Städten - einfach jemanden brauchte, den sie als Täter an den Pranger stellen konnte - egal ob schuldig oder nicht.

      Lu entfernte sich einige Schritte von der Leiche. Sofort sprangen die kleinen Schnapper mit ihren kurzen krallenbewehrten Beinchen herbei, ergriffen ihre Chance und füllten die leeren Mägen.

      So entsetzlich die Szene auch war, Lu konnte nicht bleiben, um Benems Überreste vor der Schändung zu bewahren.

      Er sah gen Himmel, der sich langsam rot färbte. Die Sonne ging bereits unter und