Der Trockene Tod. Alexander Köthe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Köthe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177211
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den Körper einer Ziege. Sie verliert das Gleichgewicht, stolpert, rutscht auf dem vom Regen durchtränkten Boden aus und fällt direkt auf den zappelnden Leichnam zu. Ihr Kopf landet nur wenig Zentimeter neben Vachos untotem Schädel.

      Vollkommen bewegungslos liegt sie im Matsch. Stille umgibt sie. Nur das Klingeln der kleinen Ziegenglöckchen dringt an ihre Ohren. Doch auch das verschwimmt in weiter Ferne, als Vachos Mund sich öffnet. Sie schließt die Augen und hofft auf ein schnelles Ende.

      Röchelnde, nicht verständliche unmenschliche Laute dringen an ihr Ohr. Sie zittert vor Angst. Die Sekunden verstreichen. Die Welt steht still.

      Langsam und mühevoll dreht sich Vachos toter Kopf zu ihrem. Der Mund öffnet sich mit den kaum verständlichen Worten:

      “Eeees … wa w war … e ei e eiine … Frfr a au … .”

      Ein letztes Zucken durchfährt Vachos geschändeten Körper. Dann wird es still. Die Zeit vergeht …

      Andrienna liegt im Matsch des vom Regen aufgeweichten Bodens. Starr. Immer noch traut sie sich nicht, sich zu bewegen. Die Ziegen laufen um sie herum, so, als wenn es ein ganz normaler Abend wäre, der die Nacht willkommen heißt. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann ist sie bereit. Andrienna drückt ihre Handballen tief in den matschigen Boden, drückt mit aller Kraft ihren gelähmten Körper nach oben und richtet sich langsam auf. Sie atmet schwer. Nur mühsam schafft sie es, ein paar Schritte rückwärts zu taumeln, den Blick stets auf den am Boden liegenden Vacho gerichtet. Meter um Meter wächst der Abstand zwischen ihr und dem Grauen.

      Dann, wie auf einen für menschliche Ohren nicht wahrnehmbaren Befehl hin, stürzen sich die Ziegen gleich einer Meute hungriger Bestien im Blutrausch auf Vachos Überreste und zerfetzen unter den kreischenden Schmerzensschreien des Untoten, was noch von ihm übrig ist. Ihre Zähne reißen Haut, Fleisch und Muskeln von den Knochen. Der Wahnsinn bricht aus.

      Ein Krächzen durchstößt die albtraumhafte, irrationale Szenerie und reißt Andrienna kurz in die Wirklichkeit zurück. Sie richtet ihren Blick nach oben und sieht in dem pechschwarzen Himmel einen großen tiefschwarzen Raben kreisen, dessen Laute wie höhnisches Lachen in ihren Ohren klingen.

      Andrienna blickt ein letztes Mal zurück zu Vacho. Eine Träne rollt ihre Wange hinab. Sie schließt die Augen. Dann ist nichts mehr.

      Sieben Jahre später …

      Tag 1

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      9 2 7 n a c h A n b r u c h

      d e r N e u e n Z e i t

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      1 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

      d e r Z e i t d e r B l ü t e

      F r ü h e r M i t t a g

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      I s t e n d a h / M a r k t v i e r t e l

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      Es war ein warmer, aber regnerischer Tag. Nichts Ungewöhnliches für die beginnende ‘Zeit der Blüte’. Luhni Mahjos saß in einem der zahlreichen Gasthäuser des Marktviertels Istendahs, trank braunen Kertush mit Ziegenmilch und viel Zucker und blickte gebannt durch eines der trüben Fenster nach draußen. Er war erst vor wenigen Stunden in der ‘Stadt der Weisen’, wie Istendah stets von seinem Vater genannt wurde, angekommen. Gereist war er mit einem der modernen Schiffe, die weder Wind noch elektrische Energie benötigten, sondern rein mit Wasserdruck angetrieben wurden.

      Eine faszinierende neue Technik, dachte er.

      Lu liebte die Ferne, das Abenteuer, aber hasste das Reisen, zumindest die gewöhnliche Art zu Pferd. Genauer gesagt mochte vor allem sein Hintern das Reiten so gar nicht und machte dies durch starke, anhaltende Schmerzen sehr deutlich. Deshalb reiste Lu meist modern mit einem motorisierten Reisemobil oder dem Schiff, wobei Letzteres der schnellere Weg von Talberg nach Istendah gewesen war, weshalb er sich dafür entschieden hatte.

      Noch etwas erschöpft von den Strapazen der Reise, versuchte Lu durch das schmutzige Fensterglas etwas von dem Leben dort draußen zu erhaschen. Aber der Regen ergoss sich so stark, dass er nichts als vage Umrisse erkennen konnte. Doch was er nicht sehen konnte, das fügte seine Fantasie hinzu.

      Was ist das da hinten? Ein Gift-Erjon? … Nein, das kann nicht sein, denn diese Art widernatürlicher Wesen, die eindeutig zu den gefährlichen zählte, gab es nur im hohen Norden Danariens und nicht im Herzen Sdotriens.

      Oder dort. Ein ‘Dämonischer Ozúhl’?

      Kaum sichtbar. Nur den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar.

      Nein.

      Es war alles nur seiner Fantasie entsprungen und sonst nichts. Das hoffte er zumindest.

      Was für ein Blödsinn, dachte er. Oh ja, er wusste, dass es mehr gab auf dieser Welt als das, was die meisten Menschen sehen konnten - oder wollten. Aber das bedeutete nicht, dass er in jedem Schatten ein widernatürliches Wesen, in jedem eisigen Windhauch einen fliegenden Gorgundol sehen musste. Nein, das war nun wirklich übertrieben und nicht nur das: Es war gefährlich. Verlor er den klaren Blick für das Widernatürliche, das Wahre und Wesentliche und ließ es zu, dass seine Fantasie die Führung übernahm, so würde er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen, versagte sein Geist in einer wirklich gefährlichen Situation.

      Luhni Mahjos trank einen Schluck seines schon halb erkalteten Kertushs - so mochte er ihn am liebsten -, setzte die Keramik-Tasse ab und starrte auf die sanften Wellen der dunkelbraunen Flüssigkeit. Die seicht wogenden Bewegungen wirkten beruhigend und erinnerten Lu an seine Reise über das Westmeer. Für einen kurzen Moment verlor er sich in Gedanken und träumte von einem tiefen, braun-leuchtenden Ozean, in dem die ganze Welt versank.

      Er lächelte.

      Wie war das doch gleich mit der Fantasie?

      Sein Blick glitt zurück in die Wirklichkeit und damit auf das ihm gegenüberliegende stumpfe Fenster.

      Nun ja, die Welt versinkt zwar, aber nicht in braunem Kertush, sondern im Regen.

      Je länger er nach draußen in die unwirkliche Welt blickte, desto mehr ergriff ihn ein Gefühl der Unruhe. Das sich in den Millionen und Abermillionen Regentropfen brechende Licht gaukelte ihm unheimliche Bewegungen vor, die die Tropfen zu etwas Lebendigem machten. Seltsame Gestalten entstanden und zerflossen, nur um sich zu noch bizarreren Konturen neu zu formieren, die sich stets, kurz bevor Lu sie wirklich fassen konnte, erneut auflösten.

      Dennoch: Etwas ist dort draußen. Etwas Grausames. Etwas Widernatürliches. Etwas Tödliches. SIE. ES.

      “Mehr Kertush?”

      Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr, so leise, dass er die Frage der Oberin beinahe gar nicht wahrgenommen hätte. Dennoch riss sie ihn aus seinem Bann. Sein Blick ließ vom Fenster ab.

      “Mehr Kertush, der Herr?”

      Lu blickte in ein junges, freundliches Gesicht, dass ihn fragend ansah. Die Oberin begegnete ihm mit einem Schmunzeln, was ihn im Unklaren darüber ließ, ob sie ihn an- oder für einen Trottel hielt und auslachte.

      “Könnt ihr mich verstehen?”

      Lu lächelte entschuldigend und fand endgültig zurück ins Hier und Jetzt.

      “Tut mir leid. Ja, ich spreche die ‘Sprache der Ostlande’.”

      Die ‘Sprache der Ostlande’, die nicht nur in Istendah, sondern auf dem gesamten Ost-Kontinent gesprochen wurde, bestand aus einer Wort-Mischung zahlreicher vergangener Landessprachen aus der ‘Alten Zeit’, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer allgemeingültigen Ausdrucksweise zusammengefügt hatte.

      “Eure erste Frage muss ich allerdings verneinen. Keinen Kertush mehr für mich. Vielen Dank. Wie viel Münzen kriegt ihr?”

      Bevor