Doktor Malkenthin erhob sich:
»Ich beantrage Ausschluß der Öffentlichkeit für die ganze Dauer der Verhandlung.«
Eine Bewegung, die Hallmann machte, zeigte, daß er seinen Vorschlag so weitgehend nicht verstanden wissen wollte. Aber dann erhob er sich mit seinem gewohnten Achselzucken, und das Neun-Männer-Kollegium verließ den Saal, kam nach dieser kurzen Förmlichkeit sofort zurück und verkündete:
»Die Öffentlichkeit ist vorläufig wegen Gefährdung der Sittlichkeit ausgeschlossen!«
Bei aller Angst vor der Strenge des Vorsitzenden lief der Widerspruch des Publikums murrend durch den Raum. Hallmann schlug mit der flachen Hand auf den Tisch:
»Ein bißchen schnell, Herrschaften! Oder sollen die Justizwachtmeister erst ihres Amtes walten?«
Nun leerten sich die Räume rasch. Die Presse blieb im Saal.
Auf dem breiten Korridor vor dem großen Schwurgerichtssaal in der ersten Etage des gewaltigen Stiegenhauses war durch Schranken ein großer Raum abgeschlossen, in dem sich die Prozeßbeteiligten aufhielten; rechts und links in diesem Abschnitt waren Bänke für die Zeugen aufgestellt. Eine merkwürdige Gesellschaft, beinahe durchweg elegant und modern, wenigstens in ihrer Kleidung. Gute und schlechte Parfüme und ein nicht zu lautes, hastiges Getuschel und Geraune erfüllten den Raum. Über all diesen Menschen lag der schwer zu bestimmende Hauch jener Grenzregion, in der man nicht weiß, ob man jemandem freimütig die Hand entgegenstrecken oder sie besser in der Tasche lassen soll.
Eine kleine, blonde, grell geschminkte Frau, die so hübsch war, daß sie diese Malerei gut hätte entbehren können, in zartblauer Seide wie in einer lichten Wolke schwebend, stand neben einem blonden Riesen und sprach mit großer Heftigkeit auf ein Mädchen mit kupferrotem Lockenkopf ein.
»Ihr wißt doch, ich war Marthas beste Freundin! Mir hat sie alles gesagt!«
Die Kleine in Blau preßte die schmalen Hände beteuernd an die Brust:
»Niemand weiß so genau Bescheid wie ich mit der ganzen Geschichte! Noch zwei Tage vorher war sie bei mir! Da hat sie mir gesagt: Hortense, sagt sie, er schlägt mich sicher noch tot. Es vergeht kein Tag, wo er mir nicht droht, daß er mich umbringen will!«
Die rote Loni, eine Wienerin, die es von der einfachen Maniküre in einem Jahr zur »großen Frau« gebracht hatte, die bei der Auswahl ihrer Liebhaber das Flugwesen bevorzugte und selbst in tadellosem Looping durch den Äther schoß, sah ihre kleine blonde Freundin lächelnd an:
»Aber geh, Hortense! Der Paulus, den kenn' mir besser! Da kannst uns nix erzählen! Der tuat doch kan Kinderl net weh ... Und die Martha? ... Wenn die net was zerbrechen und zerschlagen hat können oder wen was an' Schädel schmeiß'n, dann war's ihr do net wohl ...«
Die schwarzen Augen suchten Zustimmung bei dem blonden Gert, der aber in seiner fabelhaften Pomadigkeit lehnte jedes Urteil ab:
»Es ist alles nicht so wichtig, Kinder! Wichtig ist, wo wir nachher frühstücken werden, und wer heute abend mit mir ausgeht!«
Die Damen lachten, und auf ihr Gelächter kamen zwei Herren von der anderen Seite her. Der eine, ein berüchtigter Spieler, lang, schmal, hektisch, mit den Allüren des Grandseigneurs, und sein Freund, ein bekannter Herrenreiter, der auch schon in einem Spielerprozeß nur mit Mühe an der Anklagebank vorbeigeglitten war. Der lachte mit viel zu breitem Munde und flinkernden Augen:
»Zu dumm, den armen Kerl hier auszustellen wie eine Panoptikumfigur! Ich kenne van Geldern! Wenn der den Mord begangen hat, dann heiße ich Matz!«
»Und wie heißt du wirklich!« fragte die rote Loni.
Alle lachten.
»Das sage ich nicht! Du kriegst es fertig und nennst mich laut beim Vornamen!«
Der lange Hasardeur schüttelte mißbilligend den Kopf:
»Mir scheint, es ist nicht der Augenblick, um Witze zu reißen ... da kämpft ein Mensch um sein Leben und um seine Ehre. Ich wünschte, ich könnte etwas für Paulus van Geldern tun. Mir scheint, der arme Junge hat eine schlechte Karte in der Hand ... er wird das Spiel hinwerfen müssen!«
»Seht ihr, das sage ich auch!« Hortense Bernhardi fuchtelte mit ihren weißen Kinderarmen in der Luft. »Und es ist ihm ganz recht! ... Meine arme Martha!« Das süße Gesichtchen schluchzte plötzlich laut auf.
Plötzlich kamen zwei ganz in Weiß gekleidete Frauen, einander sehr ähnlich, weshalb man sie auch »die Zwillinge« getauft hatte, mit allen Gesten einer großen schrecklichen Neuigkeit herüber, und sofort verbreitete sich die Kunde, die schon durch die geschlossenen Türen des Schwurgerichtssaales gedrungen war: wie und unter was für grausigen Umständen Martha Streckaus ermordet wurde. Sie steckten alle die Köpfe zusammen, wisperten.
»Ja«, flüsterte die eine der beiden duftig hellen »Zwillinge«, »auf dem rechten Arm hat sie gelegen mit dem Gesicht ...«
Sie sprach französisch weiter ... Leise Schreie ertönten, als sei die Schlußnote eines grellen, herzzerreißenden Musikstücks aufgeklungen und schwinge zitternd im Raum. Aus der Höhe der Riesenfenster goß die Sonne einen Schwall von Licht in das Stiegenhaus. Da war es, als trüge jedes Sonnenstäubchen diese entsetzliche Mär von dem Mord, den der Gatte an seiner eigenen Frau verübt haben sollte.
3
Der Justizwachtmeister hatte die große Pforte des Schwurgerichtssaales zum Korridor hin ebenso wie die hohen Fenster weit geöffnet. Der Tag war heiß, und im Saal hatte die Luft, schon jetzt um zwölf Uhr, wie ein Bleimantel auf den Menschen gelegen.
Die Öffentlichkeit wurde wiederhergestellt. Die Zeugen, die noch nicht aufgerufen waren und den Saal vorläufig nicht betreten durften, drängten zu der aus der Tür fallenden Helligkeit. Zuhörer kamen durch den Hintereingang, man hörte Scharren, Räuspern und Husten. Die Damen und Kavaliere auf der Galerie erschienen, und der Vorsitzende verkündete:
»Die Vernehmung geht weiter ... Angeklagter! Was können Sie uns über den Schmuck, den Ihre Frau in so reichem Maße besessen zu haben scheint, was können Sie uns darüber angeben?«
Es war, als wehe von irgendwoher aus dem Unbekannten und Unsichtbaren etwas an den Rechtsanwalt Paulus van Geldern heran. Seine Sicherheit und Festigkeit schien ins Schwanken zu kommen. Er dachte nach. Er besann sich, und als ihn der Landgerichtsdirektor wiederholt und weniger freundlich aufforderte, sich zu diesem Punkt zu äußern, meinte er sichtlich verlegen:
»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe, Herr Vorsitzender ...?«
»Ja, Sie verstehen mich schon richtig, Angeklagter! Aber hier ist die Ecke, um die Sie nicht herumkommen!« Der starke, dicke Finger schlug wiederholt auf den Aktendeckel: »Machen Sie keine Ausflüchte, sagen Sie frei heraus, daß Sie diesen Schmuck an sich genommen und verkauft haben!«
Es dauerte immer noch Sekunden, bis van Geldern sprach. Aber man sah jetzt an seinem kampfentschlossenen Gesicht, daß er nicht mehr unsicher war. Er überlegte nur. Dann sagte er ruhig und bestimmt:
»Ich habe nichts zu verbergen, und ich werde nichts verheimlichen. Vergleichen Sie bitte die Protokolle, wie sie in meinen Verhören mit Kommissar Dammann zustande gekommen sind. Ich habe niemals etwas anderes gesagt als das, was ich jetzt sagen werde ...«
»Etwas viel Vorrede!« brummte Hallmann. Aber die Worte erreichten van Gelderns Ohr kaum.
»Ja, meine Frau besaß viel Schmuck. Sie hat stets eine große Vorliebe für Brillanten und Edelsteine, besonders auch für Perlen gehabt. Und bei der Eigenart ihres Geschäfts ist sie wohl häufig