Hallmann ersuchte Professor Grolly mit einer höflichen Geste, und dieser bemühte sich sogleich um den sichtlich Leidenden.
Er wandte sich bald an den Vorsitzenden: »Ich kann schon nach oberflächlicher Untersuchung sagen, daß das Gericht heute die Verhandlung nicht wird fortsetzen können. Der Fieberanfall ist, das zeigt der Puls und der kollapsähnliche Niederbruch des Patienten, außerordentlich heftig. Wie mir der Angeklagte mitteilte, bekämpft er das Leiden schon seit drei Tagen durch starke Dosen Chinin. Und ich würde es für sehr bedenklich halten, den Patienten auch nur für kurze Zeit noch anzustrengen. Außerdem möchte ich bezweifeln, daß der Angeklagte noch verhandlungsfähig ist!«
Der Vorsitzende erhob sich. Er konnte eine leichte Verärgerung nicht ganz unterdrücken.
»Wir brechen die Verhandlung ab!« Und zu van Geldern: »Ich denke doch, daß wir Montag werden fortfahren können?«
Der sah den Fragenden mit verlorenem Blick an. Dann nickte er. Stand auf, sagte mit einem gurgelnden Ton: »Ich bitte ... Wasser ...« und brach neben seinem Stuhl zusammen.
Der Anwalt und die Gerichtsbeamten sprangen hinzu. Man hob den Ohnmächtigen auf und trug ihn hinaus. Zögernd verließ das Publikum den Schwurgerichtssaal.
Am Richtertisch, den die Geschworenen und Beisitzer schon verlassen hatten, stand der Landgerichtsdirektor zusammen mit Doktor Vierklee.
Hallmanns Gesicht hatte den Ausdruck des großen Richters verloren. Ein Mensch wollte sich rechtfertigen, der von einem anderen nicht mehr verstanden wurde.
»Sie wissen, Herr Rechtsanwalt, daß ich im allgemeinen durchaus kein drakonischer Richter bin! Der leidende Mitmensch ist, auch wenn er schuldig ist, für mich Gegenstand des Mitgefühls. Aber Ihr Klient hat nach meiner Empfindung wenig Anspruch darauf.«
»Mir ist offengestanden Ihr ausnehmend schroffes Vorgehen in diesem Fall völlig unverständlich, Herr Landgerichtsdirektor.«
Hallmann zögerte. Endlich sagte er, und unter seinen Worten spürte Vierklee merkwürdig fremde Erregung: »Wenn Mann gegen Mann kämpft, meinetwegen auch in verbrecherischer Weise, so kann ich das begreifen! Aber ein Mann gegen ein Weib ... eine Frau, die ihn obendrein liebt, und wenn sie zehnmal zänkisch und eifersüchtig ist – nein! Ich habe, als ich jung war, eine Verwandte gehabt, ein Mädchen von achtzehn Jahren, das ich gern hätte heiraten wollen. Sie wurde nachts auf dem Heimwege von ebensolchem Schurken ermordet ... in einer bestialischen Weise zugerichtet und zerfetzt. Und wenn ich zehnmal Richter bin und meine Pflicht wohl kenne, unparteiisch und gerecht zu urteilen, wenn ich auch weiß und es mir immer wieder vornehme, mich nicht durch menschliche und persönliche Einflüsse bestimmen zu lassen – über das komme ich nicht hinweg! Ein Mann, der eine Frau ermordet und ihr, wie hier, dabei Liebe vorheuchelt, der findet bei mir kein Erbarmen!«
Der große, starkgliedrige Mann wandte sich mit den letzten Worten ab. Seine Stimme hatte etwas Dunkles und Ungewisses, als er hinzusetzte: »Aber freilich! Der Verdacht, eine solche Untat begangen zu haben, genügt nicht. Die Tat muß dem Angeklagten auch bewiesen werden!«
Es schien, als wollte Hallmann noch mehr sagen. Doch plötzlich, als habe er schon zuviel gesprochen, verabschiedete er sich.
Vierklee blieb mit verkniffenen Lippen stehen. Ausgerechnet! dachte er. Ausgerechnet! Und es war kein Zufall, daß er sich plötzlich an die Worte Hans Lerses erinnerte: Ich würde keine Mark wetten, daß Sie den Mann frei kriegen!
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