Dicht neben van Geldern, der sich wie automatisch niederließ, war die Rechtsanwaltsbank, neben der sein Verteidiger Doktor Joachim Vierklee sich mit Hans Lerse, dem Reportagechef von den »Berliner Allgemeinen Nachrichten«, unterhielt. Lerse brachte seinen dreieckigen Kopf mit der großen spitzen Nase dicht an das Gesicht des Rechtsanwalts heran: »Wie legen Sie den Fall, Doktor?«
»Absolut: Sieg!«
Lerse schüttelte den Kopf mit den großen abstehenden Ohren: »Platz! ... Höchstens! Ich wette keine zehn Mark, daß Sie den Mann frei kriegen!«
Vierklee hob das scharfgeschnittene Profil mit dem blitzenden Monokel und sah den Zeitungsmann ohne Antwort an. Sein schmaler Mund, die nur ganz wenig gebogene Nase und das in seinem Weiß leicht getüpfelte Auge verriet nichts von dem, was in seinem Innern vorging. Dieser Mann in der schwarzen Robe, zu dem jeder kam, der seine letzte Karte ausspielen mußte, verschoß sein Pulver nicht vor der Schlacht.
Paulus van Geldern suchte auf den Zeugenbänken nach dem einzigen, das ihn in dieser Welt festhielt. Seine großen dunklen Augen gingen im Saal hin und her und fanden endlich auf der zweiten Zeugenbank ganz in der Ecke die Gesuchte. Sie saß, von ihrer Mutter gedeckt, und hielt ihr Tuch an die Augen. Plötzlich, als spüre sie seinen Anruf, ließ sie die Hand sinken und erhob ihr junges, achtzehnjähriges Gesicht zu ihm.
Sie gab ihm in diesem Augenblick alles, was sie ihm geben konnte, ihre ganze Seele, ihren Leib und ihr Leben. Sie behielt nichts für sich. Sie allein in diesem großen, von Menschheit brausenden Saal war bis zum Rande ihrer Seele erfüllt von dem Glauben an seine Unschuld.
Und es war Paulus, als strömten ihm neue Kraftquellen zu für den schweren Kampf, den eine Welt von rachgierigen Feinden ihm entgegentrug.
In diesem Augenblick erhob sie sich und verließ mit ihrer Mutter und den anderen Zeugen auf das Gebot des Vorsitzenden den Saal.
Die beiden Sachverständigen, Professor Grolly von der Universität Greifswald und Doktor Rawenfleet von der Berliner Städtischen Irrenanstalt, machten sich mit dem Vorsitzenden bekannt.
Die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses dauerte nicht lange. Es handelte sich darum, daß der Rechtsanwalt Paulus van Geldern aus Berlin und in Berlin wohnhaft hinreichend verdächtig erschien, am 5. Januar 1931 seine Ehefrau Martha, geborene Streckaus, in der gemeinsamen Wohnung in Westend bei Berlin, Quintenallee 17, ermordet zu haben.
»Bekennen Sie sich schuldig, Angeklagter?«
Van Geldern war, als seine Personaldaten von ihm verlangt wurden, aufgestanden und vom Vorsitzenden belehrt worden, daß er sitzen bleiben könne. Trotzdem erhob er auf diese Frage seinen wohl einen Meter neunzig hohen Körper mit einem Ruck. Seine breite und hohe Brust trat hervor, als hätte er sie tief mit Atem gefüllt. Er hielt die Arme gesenkt, aber sie fielen nicht schlaff zu beiden Seiten herunter, sondern es war in ihrer leichten Krümmung die ungeheure Spannung, der stärkste Wille zur Abwehr. So sah er den Vorsitzenden an. Seine Stimme kam wie aus mächtigem Druck:
»Nein!«
Dann setzte er sich wieder, und das Duell zwischen ihm, dessen Beruf es war, Menschen in ihrem oft verzweiflungsvollen Kampf zu helfen, und zwischen dem, der die menschliche Gerechtigkeit verkörperte, nahm seinen Anfang.
»Wollen Sie uns jetzt einmal ruhig und mit allen Einzelheiten erzählen, was sich am 5. Januar 1931 in Ihrer Villa zwischen Ihnen und Ihrer Frau zugetragen hat?«
Der Angeklagte atmete tief: »Ich kam um drei Uhr aus dem Büro. Im Speisezimmer, in das ich eintrat, nachdem ich meine Frau vergeblich im ganzen Haus gesucht hatte, war der Frühstückstisch noch nicht abgeräumt. Ich bin ein von Hause aus ordentlich erzogener Mensch, und eine derartige Liederlichkeit ist mir tief zuwider. Ich will hierbei gleich sagen, daß die Boheme-Natur meiner Frau der erste Anlaß zu unserer Entfremdung war ...«
Der Vorsitzende hob leicht die Hand: »Darüber werden wir später Zeugen hören, die etwas ganz anderes bekunden ...«
Das Monokel von Joachim Vierklee funkelte wie ein Brennglas nach dem Gesicht des Vorsitzenden. Der parierte sofort: »Sie sind anderer Meinung, Herr Rechtsanwalt, und das entspricht Ihrer Funktion. Sie sollen auch nicht in der Bekundung Ihrer Ansichten von mir gehindert werden – ebensowenig wie Ihr Klient ... Also bitte weiter, Angeklagter!«
»Ich klingelte nach dem Mädchen, das ebenfalls nicht da war. Schließlich kam die Köchin. Es ist das die Minna Müller, die auch als Zeugin gegen mich auftreten wird und die meine Frau aus ihrer früheren Wirtschaft schon mit in die Ehe gebracht hat. Ich weiß aus den Protokollen, daß ich nun sofort in einer ganz zügellosen Weise auf meine Frau geschimpft und gedroht haben soll: ich würde ihr den Standpunkt bei ihrem Heimkommen einmal deutlich klarmachen! ... Und das wäre von Handbewegungen begleitet gewesen, die keinen Zweifel an meinen bösen Absichten ließen!«
Der Angeschuldigte pausierte einen Augenblick, und der Vorsitzende nickte.
Ohne zu diesen Behauptungen Stellung zu nehmen, fuhr van Geldern in seinem Bericht fort: »Ich bekam also schließlich ein paar Setzeier mit Bratkartoffeln. Das war mein Mittagsmahl, nachdem ich frühmorgens um halb acht das Haus verlassen und, beruflich stark in Anspruch genommen, wie ich bin, seit dem Frühstücksbrötchen keinen Happen zu mir genommen hatte. Ich bin ein wenig magenleidend, eben wohl durch das sehr häufig verzögerte und vergessene Essen, und gerate dann in eine gewisse Aufregung, die ich mich aber immer bemühe meine Umgebung nicht entgelten zu lassen. Die Stutzuhr auf dem Kamin schlug grade halb, als meine Frau ins Zimmer trat. Sie war in großer Toilette und kam von irgendeiner mondänen Veranstaltung. Wenn ich nicht irre, war es ein Basar, den die Fürstin Haßfeld veranstaltet hatte.«
Die Hand des Vorsitzenden unterbrach: »Können Sie sich entsinnen, welche Toilette Ihre Gattin damals trug?«
Paulus van Geldern schien nachzusinnen. Ein unmerklich fragender Blick glitt zu Joachim Vierklee hin. Das scharfe, jetzt von einer gelblichen Röte überhauchte Gesicht des eben aufgestandenen Rechtsanwalts begegnete dem Auge des Klienten und gab Antwort: sprich, es ist ungefährlich!
»Müssen Sie sich das erst so lange überlegen?« fragte der nicht ganz ahnungslose Vorsitzende.
Paulus van Geldern hatte seine Sicherheit wiedergewonnen. Er war nicht mehr der Angeklagte, er war der Anwalt des Beschuldigten und Angeklagter zugleich.
»Ich habe von jeher auf dem Standpunkt gestanden, Herr Vorsitzender, daß es unendlich falsch und gefährlich ist, einen Angeklagten auf gewisse Daten, Orts- und Zeitbestimmungen oder auf Äußerlichkeiten in seinen Bekundungen festzunageln. Wir Menschen haben alle ein so kurzes und leicht auszuschaltendes Gedächtnis, daß wir uns nur an wenige Ereignisse ganz deutlich zurückerinnern können.«
Der Vorsitzende hatte sich in seinem hohen Armstuhl nach hinten gelehnt, den Kopf auf dem Kragen blies er aus gespitzten Lippen die Luft von sich. Plötzlich aber senkte er den Kopf und sagte fast mit einem Anflug von Humor:
»Sie verkennen Ihre Rolle, Angeklagter! Sie sind hier nicht Verteidiger, wie Sie anzunehmen scheinen. Das ist Doktor Vierklee. Sie selbst sind der Angeschuldigte ... also verteidigen Sie sich, aber halten Sie keine metaphysischen Brandreden!«
Doktor Vierklee sprang ein: »Sie gestatten, Herr Landgerichtsdirektor: es kann nach der Strafprozeßordnung Abschnitt V § 243 dem Angeklagten nicht verwehrt werden, sich in der seinem Bildungsgrad und seinem geistigen Niveau entsprechenden Art zu verteidigen. Wenn mein Klient glaubt, darauf hinweisen zu müssen, daß es unendlich schwer ist, selbst nach wenigen Tagen, sich an affektive Tatsachen zu erinnern, so liegt das durchaus im erlaubten Rahmen seiner Verteidigung. In dieser Anklage wegen Gattenmordes gibt es keine tatsächlichen Beweise. Nur Indizien gibt es hier ... reine Indizien! Wir alle aber wissen, welch eine unendliche Gefahr für die Gerechtigkeit hinter dem Indizienbeweis lauert! Der Angeklagte kämpft um seinen Kopf! Auch nicht eine Spur seines Verteidigungsrechts darf ihm verkümmert werden!«