„Genau das machen wir natürlich auch, mein lieber Peter“, pries Böttcher seinen vermeintlichen Hauptgewinn an. „Ein Tropfen auf einer Scheibe ist ja nichts anderes als Wasser auf einer schiefen Ebene. Zugegeben: im Fall der Fensterscheibe ist diese Ebene mehr als nur schief. Wir bauen also eine solche Ebene auf einen verstellbaren Winkel und montieren am oberen Ende einen Wasserzufluss mit Druckregulierung. So erhalten wir zwei Variablen, den Wasserdruck und den Neigungswinkel der Ebene und können in drei Monaten ausreichend Experimente durchführen, um belastbare empirische Daten über das Fließverhalten des Wassers zu erhalten.“
„Fantastisch“, platzte es aus Basti heraus.
Ich bemerkte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Nicht genug, dass ich noch nicht so genau verstanden hatte, was wir da empirisch und mit zwei Variablen eigentlich veranstalten würden, das mit den drei Monaten meinte Herr Böttcher erschreckend wörtlich. „Wenn wir in zwölf Wochen jeden Tag zwei Durchläufe von je vier Stunden machen, kommen wir auf 120 Testreihen. Mit dem einen oder anderen Durchlauf am Wochenende oder abends sollten wir genügend Daten zusammenkriegen, um Mitte Juli fertig zu sein. Bis Ende August könnt ihr dann die Arbeit schreiben. Abgabe ist am 15. September. Was sagt ihr - ist das ein Plan?“
Nach diesem Gespräch hatten Basti und ich die schlimmste Krise unserer 15-jährigen Freundschaft. Drei Monate lang irgendwelche Variablen variieren? In den Sommermonaten am Schreibtisch sitzen und eine Arbeit schreiben? Ich erklärte Basti, ich würde aussteigen. Ich meinte es ernst, aber er nahm mir das nicht mal eine Sekunde lang ab.
„Mal ernsthaft, Pete - was würde deine Mutter wohl davon halten?“ Dieser Satz machte mich so wütend, dass ich fast geschrien hätte. Blöderweise standen wir mitten auf dem Schulhof. Noch mehr als dämliche Abkürzungen hasste ich dramatische Szenen in aller Öffentlichkeit. Also würgte ich ein erbärmliches „mirdochscheißegal“ hervor, schubste Basti so fest gegen die Brust, wie ich nur konnte und rannte wortlos nach drinnen.
Der Papierkorb im Jungs-Klo bekam dann meine ganze Wut zu spüren. Idiotischerweise war es mir nämlich gar nicht scheißegal, was meine Mutter davon halten würde. Scheiß Papierkorb. Kein winziges bisschen scheißegal, denn es war verdammt nochmal meine einzige sinnvolle Aufgabe auf diesem Planeten, ihr keinen Kummer zu bereiten. Verdammter Scheiß Papierkorb. Und Basti wusste das genau. Er hatte von Anfang an geplant, meine Mutter als Druckmittel einzusetzen. Verblödeter, dämlicher Blech-Papierkorb-Arsch.
„Sag mal, geht’s noch?“ Die Tür ging auf und Katrin Morgentaler stand vor mir. Ich starrte sie an, als spräche sie Suaheli. Sie starrte mich an, als sei ich bescheuert. Für eine solche Situation hatte ich eigentlich, gemeinsam mit Basti, eine ganze Liste cooler Sprüche vorbereitet - von Immer locker bleiben, Schätzchen bis Es ist nicht das, wonach es aussieht. Stattdessen nuschelte ich: „Das ist das Jungs-Klo“ und stürmte an ihr vorbei.
Wendung
Das Problem mit mir war: ich war verdammt schlecht im Streiten. Wirklich schlecht. Meist kam es überhaupt nicht dazu, dass ich mit irgendjemandem in Konflikt geriet. Aber wenn doch, war ich drüber so erschrocken, dass ich alles dafür tat, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten. Der Anlass war mir egal. Der Schuldige war mir egal. Ich wollte Frieden. Wenn meine Mutter mich als fernsehsüchtig beschimpfte, wenn Sie nach 19 Uhr nach Hause kam und bemerkte, dass der Fernseher noch warm war, schrie ich ihr nicht etwa entgegen, ich hätte nur MTV Europe im Hintergrund laufen lassen, weil es in diesem Irrenhaus nicht mal ein Radio gäbe. Und dabei hatte ich immerhin eine Stunde lang Wäsche zusammen gelegt. Stattdessen sagte ich einfach tut mir leid und verschwand in meinem Zimmer. Wenn sie mich einmal in drei Monaten von einem Schwimmwettkampf abholen sollte, eine ganze Stunde zu spät kam und sich kaum war die Autotür geöffnet, wortreich entschuldigte, war ich schon nicht mehr sauer, bevor ich auf dem Sitz saß. Natürlich, ich hatte sie mehrfach daran erinnert. Aber dann hatte es beim Friseur eben länger gedauert, sie hatte sich ein wenig verquatscht und dann waren da tatsächlich auch noch andere Autos auf den Straßen.
Im Grunde war mir meistens alles nicht so wichtig. Ich konnte die Beweggründe von anderen besser verstehen, als meine eigenen. Basti wollte mich unbedingt dabei haben. Er wusste, worauf ich anspringen würde. Also hat er das ausgenutzt und es hat funktioniert. Das war zwar berechnend, aber er hatte sich entschuldigt. Und ganz ehrlich - ich hatte eh nix besseres vor.
Eine Woche nach unserem Streit begannen wir mit dem ersten Experiment.
Unser Labor war ein nicht genutzter Klassenraum, dessen hintere Hälfte bis unter die Decke mit alten Holzstühlen vollgestellt war. Der Raum lag im Keller des Altbaus, unterhalb der Straßenebene, so dass kaum Licht durch die Fenster hineindrang. In der Luft hing eine undefinierbare Mischung aus schimmelndem Holz, Rattengift und toter Ratte.
Unsere Experimentierfläche war eine drei Meter lange Pressspanplatte, die Basti mit Bootslack eingepinselt und auf das Holzgerüst eines Liegestuhls geschraubt hatte. Mit Hilfe eines Schlauches am oberen Ende der Platte konnte man Wasser die Ebene runterlaufen lassen, wobei sich Mäander ausbildeten, diese typischen Schleifen.
Unsere Hypothese war: verändern wir Wasserdruck oder Neigungswinkel der Platte, verändern sich auch die Mäander.
Unser Forschungsziel war: Regeln und Gesetze für die Herausbildung der Wasserbögen zu finden.
Unsere Motivation war: in die tieferen Sphären der Wissenschaft vorzudringen und den Rätseln des Kosmos ein weiteres wertvolles Geheimnis abzutrotzen. Zumindest konnte ich genau das in Bastis Gesicht lesen, als er zum ersten Mal den Wasserhahn öffnete und zusah, wie sich ein winziges Rinnsal Wasser über unsere Platte wand, um leise strullernd in die Auffangwanne zu laufen.
Meine ganz eigene Motivation war es, Basti zu unterstützen, meine Mutter zufriedenzustellen und auf irgendeine überraschende Wendung dieser Forschungsgeschichte zu hoffen. Bisher erschien mir nämlich alles genau so, wie ich es erwartet hatte: aufgeblasen, mühselig und unendlich langweilig.
Unsere gesamte Arbeit bestand darin, Neigungswinkel und Druck einzustellen, die ganze Apparatur vier Stunden lang laufen zu lassen und in Intervallen von dreißig Minuten zu zählen, wie viele Schleifen sich ausgebildet hatten, zu messen wie breit ihre Ausdehnung war und alles sorgfältig zu notieren und zu fotografieren. Jede Messung dauerte weniger als eine Minute, so dass uns am Vormittag im Namen der Forschung erlaubt wurde kurz den Unterricht zu verlassen, um im Keller Notizen zu machen.
An den Tagen, an denen ich dafür eingeteilt war, hielt ich mich streng an den Plan, vergaß nie auch nur eine Messung und dokumentierte gewissenhaft jede kleinste Veränderung. Allein - ich verstand immer noch nicht, warum wir das alles taten. Zugegeben, den Unterricht einfach so verlassen zu dürfen, fand ich gut. Die Kehrseite davon war: die ganze Klasse wusste, warum einer von uns immer mal wieder kommentarlos den Saal verließ. Und nicht nur die Klasse. Die ganze Schule wusste es. Basti und Peter aus der 10b, der Große und der Kleine, dieses ohnehin schon merkwürdige Pärchen, waren freiwillig und anscheinend mit Begeisterung in die JuFo-Welt übergetreten. Und während Basti von unserer wachsenden Berühmtheit wenig bis nichts mitzukriegen schien, hörte ich auf den Gängen immer öfter Getuschel oder spürte spöttische Blicke in der Pause.
Trotz all dieser negativen Vorzeichen klopfte dann aber