Jeder, der meinen Nachbarn kennt, nennt ihn den Hasen. Ich glaube, er selbst hat mittlerweile Gefallen an diesem Namen gefunden. Eigentlich heißt er Sinanovic, Mensur Sinanovic. Sie können das nachprüfen. Er ist ein paar Jahre jünger als ich und stammt aus Bosnien. Der Grund, warum ihn alle den Hasen nennen, liegt in seiner Fortbewegungsweise. Beim Laufen schlägt er ständig Haken. Wenn er stehen bleibt, zuckt er unvermittelt und springt plötzlich zur Seite, geht unerwartet in die Hocke und rollt sich ab. Das macht er auch beim Einkaufen oder mitten in einem Gespräch und wie dieser Mensch die Geranien auf seinem Balkon gießt, ohne dabei das gesamte Haus zu wässern, ist mir ein Rätsel. Er steht niemals wirklich still. Wie gesagt, er wirkt völlig verrückt. Und eine Unterhaltung mit ihm treibt einen fast selbst in den Wahnsinn.
Ich lernte ihn vor etwa fünf Jahren kennen, als ich mit meiner Freundin in eine Dachwohnung im Belgischen Viertel zog. Der Hase wohnte direkt unter uns und alles, was durch den Dielenboden an Rumpeln, Stoßen und Springen zu uns heraufdrang, ließ darauf schließen, dass seine Springerei selbst in der Wohnung nicht aufhörte. Aus dem Haus oder der Nachbarschaft wusste niemand irgendetwas über die Ursache der Zuckungen zu sagen. Er sei halt irre, war die einhellige Meinung, aber ansonsten harmlos. Nachdem ich ihn ein paar Wochen lang mit einer Mischung aus Faszination und Befremden beobachtet hatte, beschloss ich, ihn direkt auf seine Macke anzusprechen. „Herr Sinanovic“, sagte ich, denn ich wusste damals noch nicht, wie er zu seinem Spitznamen stand. Ich traf ihn im Hausflur, wo er sich etwas ruhiger bewegte, den Kopf jedoch ständig schräg nach oben gerichtet hielt, als erwarte er die Ankunft von irgendwas oder irgendwem direkt aus dem Himmel. Als ich die Treppe herunter kam, lief ich ihm also genau ins Blickfeld. „Herr Sinanovic“, sagte ich, „verzeihen Sie meine Neugier, aber ich habe mich gefragt, ob ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen kann. Wie ist das mit ihrem Zucken? Ist das irgendeine Art Muskelerkrankung?“ Zu meiner Überraschung erstarrte er fast vollständig und musterte mich mit einem Blick, von dem ich nicht sicher war, ob er Verwirrung oder vielleicht sogar Belustigung ausdrückte. Gut drei, vier Sekunden lang stand er vollkommen still und sprach kein Wort. Dann sagte mit ruhiger und fester Stimme: „Nein. Keine Krankheit. Ich kann auch aufhören mit Hüpfen.“ Wie zum Beweis lehnte er sich scheinbar entspannt an das Treppengeländer. Er hielt das noch mal gut drei Sekunden durch, dann sprang er auf mich zu und legte verschwörerisch einen Arm um mich. „Ich mache das wegen Sicherheit. Wegen Kugeln.“ Ich muss ihn wohl ziemlich fragend angesehen haben. Jedenfalls zog unvermittelt ein breites Grinsen über sein Gesicht und er sprach zum ersten Mal jene typischen Worte: „Keine Angst, ich nicht verrückt.“ Damit klopfte er mir freundschaftlich auf die Schultern, ließ sich urplötzlich zu Boden gleiten und sprang mit einem Satz an seine Wohnungstür. Die Sekunden, bis er die Tür geöffnet hatte, bereiteten ihm zusehends Unbehagen, aber schließlich verschwand er mit einer Schraube um den Rahmen und ließ die Tür elegant zuklappen.
In diesem Moment im Treppenhaus war ich mir absolut sicher, dass dieser Mann vollkommen verrückt war. Aber später erzählte er mir seine Geschichte.
Als Kind lebte der Hase in der Nähe von Srebrenica. Sie wissen schon, das Massaker. 1995 war er zwölf Jahre alt und musste mit ansehen, wie sein Vater und seine beiden älteren Brüder erschossen wurden. Er stand neben seinem 17-jährigen Bruder Mesud, als diesen die Kugeln in den Oberkörper trafen und er rückwärts in eine Grube sackte. Der Befehlshaber des Exekutionskommandos wandte sich nach der Erschießung Mensur zu. Er zeigte in Richtung eines nahe gelegenen Waldes und rief „Du. Hau ab. Lauf.“ Mensur erzählte mir, dass er sich zunächst überhaupt nicht rühren konnte, bis der Offizier ihn anbrüllte, er solle machen, dass er wegkomme. „Und da habe ich gesehen in seine Augen“, erklärte er mir. „Wenn ich laufe, er wird mich schießen in Rücken.“ Erst, als der Offizier unmittelbar vor seinen Füßen in den Boden feuerte, lief Mensur los. Er blickte noch kurz über seine Schulter, aber der Offizier schrie ihn an. „Dreh dich nicht um. Hau endlich ab!“ Aus den Augenwinkeln glaubte Mensur zu sehen, dass sich zwei Soldaten mit ihren Gewehren in seine Richtung drehten und dann begann es. „Es ist passiert – einfach von selbst“ sagte er zu mir. Nach den ersten fünf Schritten machte er einen überraschenden Sprung nach links. Im gleichen Moment meinte er zu fühlen, wie eine Kugel direkt rechts neben ihm vorbei pfiff. Sie schienen also tatsächlich auf ihn zu schießen. Allerdings hütete sich der Hase, noch einmal zurückzublicken. Er lief weiter, so schnell er irgendwie konnte. Und während er das Wäldchen vor sich fest ins Visier nahm, hüpfte er von links nach rechts, duckte sich urplötzlich, rollte sich ab, schlug Haken und rannte, rannte, rannte. Immer wieder glaubte er, Schüsse zu hören. Jedes Mal rechnete er fest damit, dass ihm ein Projektil den Rücken aufreißen und ihn in den Matsch schleudern würde. Die Angst machte ihn fast wahnsinnig. Und dann, so erzählte er es mir, hörte er von einem Moment auf den anderen auf, überhaupt zu denken. Er dachte nicht mehr darüber nach, wo er war und was er hier tat. Er vergaß, was vor einigen Minuten geschehen war und was mit ihm jeden Moment geschehen könnte. Sein Gehirn gab das letzte bisschen Kontrolle ab und seine Beine übernahmen: er sprang, krabbelte, änderte die Richtung und kam immer weiter fort. Das einzige, was er noch wahrnahm war, das Keuchen seiner Atemzüge und das schmerzhafte Pochen seines Herzens. Es raste in seiner Brust, wie eine Nähmaschine, wild entschlossen, sich nicht von einem Stück Metall auseinanderreißen zu lassen. „Herz war laut - aber Herz war ruhig“, so formulierte es der Hase mir gegenüber. „Und da, ich wusste, ich werde schaffen.“
Mensur erreichte den schützenden Wald ohne einen Kratzer. „Weil ich gelaufen bin wie Hase“, erzählte er mir voller Stolz. Seit diesem Tag hatte er nicht mehr damit aufgehört. Aber nicht, weil er nicht konnte, wie er mir versicherte – er wollte nicht. Das Hakenschlagen hatte ihm das Leben gerettet und vielleicht würde es das wieder tun. Vielleicht würde ihn sonst ein herabstürzender Blumentopf treffen oder ein Auto, das außer Kontrolle geraten war, sagte er. Ein Stein, den irgendjemand in Wut geschleudert hatte oder eben doch eine Patrone seiner Verfolger, die ihn nach all den Jahren aufgespürt hatten. „Herz schlägt immer noch“, beschloss er seine Geschichte mit einem Lächeln und der Hand auf der Brust. „Immer noch so, wie diese Tag“. Ich erwiderte sein Lächeln, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstand. Aber ich schien ihn nicht zu überzeugen. Wie um mich zu beruhigen, legte er die Hand auf meinen Unterarm und sagte in beschwichtigendem Ton erneut: „Ich nicht verrückt.“
Und ich eben auch nicht. Ich weiß sehr gut, dass Ihnen mein Verhalten sonderbar erscheint. So sonderbar, dass Sie mir geraten haben, erstmal hier zu bleiben. So sonderbar, wie mir das Gehüpfe des Hasen erschien, bevor er mir seine Geschichte erzählte. Also möchte ich Ihnen meine Geschichte erzählen, auch wenn ich dafür ein wenig mehr Zeit benötigen werde als der Hase. Aber lassen Sie mich diese beiden Dinge vorausschicken: Erstens, ich bin nicht verrückt. Zweitens, ich verstehe und akzeptiere, dass Sie Gründe haben, das anders zu sehen. Aber Sie irren sich.
Materialermüdung
Am Morgen des 3. November 1978 erwachte mein Vater, Herbert Josef Boltenhagen, bei bester Gesundheit und Laune. Er trank seine übliche Tasse Ostfriesentee, aß zwei Scheiben Graubrot mit Käse, küsste seine Frau und seinen neun Monate alten Sohn zärtlich auf die Stirn, verließ pünktlich um 8:30 Uhr die frisch eingerichtete Vierzimmerwohnung und kam nie wieder nach Hause. Arbeitsunfall. Dabei hatte er einen geradezu lächerlich ungefährlichen Beruf. Er war Pianist des örtlichen Konzerthauses – in Festanstellung, wie meine Mutter niemals hinzuzufügen vergaß. „Er war das jüngste Mitglied des gesamten Ensembles und das bei einem so seltenen Posten“.
Das Schlimmste, was einem Pianisten bei der Arbeit gewöhnlicherweise zustoßen kann, ist, dass ein vermeintlicher Kunstkenner, von einem schiefen Ton bis aufs Blut gereizt, sich zum Äußersten genötigt sieht und die halb aufgekaute Pausenbrezel in den Orchestergraben pfeffert. Aber mein Vater begnügte sich nicht mit dem Gewöhnlichen.
Meine Mutter erzählte immer, es geschah pünktlich zum Ende der nachmittäglichen Probe – auch dieses Detail scheint ihr wichtig. Als ob mein Vater noch im