So saßen wir noch mehrere Minuten in völligem Stillschweigen da. Stepan Trofimowitsch fing an, mir etwas sehr schnell zuzuflüstern; aber ich konnte ihn nicht verstehen, und er selbst sprach vor Aufregung nicht zu Ende, sondern brach ab. Der Kammerdiener kam noch einmal herein, um etwas auf dem Tische in Ordnung zu bringen, wahrscheinlicher aber, um uns anzusehen. Plötzlich wandte sich Schatow an ihn mit der lauten Frage:
»Alexei Jegorowitsch, wissen Sie nicht, ob Darja Pawlowna mit ihr mitgefahren ist?«
»Warwara Petrowna sind allein nach dem Dom gefahren, und Darja Pawlowna sind oben in ihrem Zimmer geblieben; Fräulein sind nicht ganz wohl,« meldete Alexei Jegorowitsch feierlich und zeremoniös.
Mein armer Freund warf mir wieder einen flüchtigen, unruhigen Blick zu, so daß ich mich endlich von ihm abwandte. Plötzlich fuhr an der Haustür eine Equipage vor, und eine entfernte Bewegung im Hause benachrichtigte uns, daß die Hausfrau zurückgekehrt sei. Wir sprangen sämtlich von unseren Plätzen auf; aber es begab sich wieder etwas Unerwartetes: es wurde das Geräusch vieler Schritte hörbar, woraus sich entnehmen ließ, daß die Hausfrau nicht allein zurückgekehrt war, und dies war wirklich einigermaßen sonderbar, da sie uns doch selbst diese Stunde bestimmt hatte. Zuletzt hörten wir, daß jemand mit ungewöhnlicher Schnelligkeit herbeikam oder geradezu lief; so konnte doch Warwara Petrowna nicht kommen? Und auf einmal kam sie ins Zimmer hereingestürzt, ganz atemlos und in höchster Aufregung. Hinter ihr folgte in einigem Abstande und weit ruhiger Lisaweta Nikolajewna und mit Lisaweta Nikolajewna Arm in Arm – Marja Timofejewna Lebjadkina! Wenn mir das geträumt hätte, so hätte ich es nicht einmal da geglaubt.
Um dieses völlig unerwartete Ereignis zu erklären, muß ich eine Stunde zurückgreifen und ausführlich das ungewöhnliche Erlebnis erzählen, das Warwara Petrowna im Dom gehabt hatte.
Zur Messe hatte sich an diesem Sonntage fast die ganze Stadt zusammengefunden, ich meine damit die höchste Schicht unserer Gesellschaft. Man wußte, daß die Frau Gouverneur zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in der Kirche erscheinen werde. Ich bemerke, daß bei uns schon Gerüchte im Umlauf waren, sie sei eine Freidenkerin und huldige »neuen Prinzipien«. Ferner war allen Damen bekannt, daß sie prächtig und mit außerordentlichem Geschmack gekleidet sein werde; und deshalb zeichneten sich die Kostüme unserer Damen diesmal durch besondere Eleganz und Kostbarkeit aus. Nur Warwara Petrowna trug wie immer ihr bescheidenes schwarzes Kleid; so war sie unveränderlich die ganzen letzten vier Jahre gegangen. Als sie in den Dom gekommen war, nahm sie auf ihrem gewöhnlichen Sitz links in der ersten Reihe Platz, und ein Diener in Livree legte ein Samtkissen für das Niederknien vor ihr auf den Fußboden; kurz, es war alles wie gewöhnlich. Aber man konnte bemerken, daß sie diesesmal während des ganzen Gottesdienstes besonders eifrig betete; man behauptete sogar nachher, als man sich alles ins Gedächtnis zurückrief, es hätten ihr die Tränen in den Augen gestanden. Endlich war die Messe zu Ende, und unser Bischof, Vater Pawel, kam heraus, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten waren bei uns sehr beliebt und wurden sehr geschätzt; man hatte ihm sogar schon oft zugeredet, sie drucken zu lassen; er hatte sich aber dazu noch nicht entschließen können. Diesmal fiel die Predigt besonders lang aus.
Und siehe da, als die Predigt schon begonnen hatte, fuhr beim Dome eine Dame in einer leichten Droschke alter Bauart vor, das heißt in einer jener Droschken, in denen Damen nur seitwärts sitzen können, sich an dem Leibgurt des Kutschers festhalten müssen und von den Stößen des Wagens wie ein Halm auf dem Felde im Winde hin und her schwanken. Solche Droschken fahren in unserer Stadt immer noch. Die Droschke hielt an der Ecke des Domes (denn am Portale standen eine Menge Equipagen und sogar Gendarmen); die Dame stieg aus und reichte dem Kutscher vier Kopeken.
»Das ist wohl zu wenig, Kutscher?« rief sie, als sie sah, was er für eine Grimasse schnitt. »Aber es ist alles, was ich habe,« fügte sie in kläglichem Tone hinzu.
»Na, in Gottes Namen; ich habe vorher keinen Preis festgemacht!« sagte der Kutscher mit einer Handbewegung des Verzichtes und sah sie an, wie wenn er dachte: »Es wäre ja auch Sünde, zu dir ein böses Wort zu sagen.«
Dann steckte er sein ledernes Geldbeutelchen vorn in die Brust, trieb sein Pferd an und fuhr davon, von den Spöttereien der dabeistehenden Droschkenkutscher begleitet. Ausdrücke des Spottes und der Verwunderung begleiteten auch die Dame die ganze Zeit über, während sie sich zwischen den Equipagen und den auf das baldige Herauskommen ihrer Herrschaften wartenden Dienern hindurch nach dem Domportale hinarbeitete. Und es lag auch wirklich etwas Ungewöhnliches und für alle Überraschendes in dem Umstande, daß eine Dame dieser Art auf einmal von irgendwoher auf der Straße unter dem Volke erschien. Sie war von einer krankhaften Magerkeit und hinkte; das Gesicht war stark weiß und rot geschminkt, der lange Hals ganz bloß; sie trug kein Tuch und keinen Mantel, sondern nur ein altes, dunkles Kleid trotz des kalten und windigen, wenn auch hellen Septembertages; der Kopf war völlig unbedeckt; in die Haare, die im Nacken in einen winzigen Kauz zusammengefaßt waren, war auf der rechten Seite nur eine künstliche Rose hineingesteckt, von der Art, wie man sie zum Schmucke der Osterengel benutzt. Einen solchen Osterengel mit einem Kranze aus Papierrosen hatte ich Tags zuvor, als ich bei Marja Timofejewna saß, in der Ecke unter den Heiligenbildern bemerkt. Die Verwunderung wurde aufs höchste gesteigert dadurch, daß die Dame zwar mit bescheiden niedergeschlagenen Augen, aber doch gleichzeitig mit einem heiteren, schlauen Lächeln einherging. Hätte sie noch einen Augenblick gezaudert, so würde man sie vielleicht gar nicht in den Dom hineingelassen haben. Aber es gelang ihr hineinzuschlüpfen, und als sie das Gotteshaus betreten hatte, drängte sie sich unauffällig nach vorn.
Obgleich es mitten in der Predigt war und die ganze dicht gedrängte Menge, die das Gotteshaus anfüllte, ihr mit voller, lautloser Aufmerksamkeit lauschte, so schielten doch einige Augen neugierig und erstaunt nach der Eingetretenen hin. Sie warf sich auf den Fliesensteinen der Kirche nieder, beugte ihr blasses Gesicht zu ihnen hinab, lag lange so da und schien zu weinen; aber als sie den Kopf wieder in die Höhe gehoben und sich von den Knien aufgerichtet hatte, war sie sehr bald wieder gefaßt und munter. Heiter und mit sichtlichem, großem Vergnügen ließ sie ihre Augen über die Anwesenden und über die Wände des Doms hingleiten; mit besonderer Neugier betrachtete sie einige Damen und hob sich zu diesem Zwecke sogar auf die Fußspitzen; ja, sie lachte sogar ein paarmal mit seltsamem Kichern. Aber nun war die Predigt zu Ende, und es wurde das Kreuz herausgetragen. Die Frau Gouverneur war die erste, die auf das Kreuz zuging; aber als sie noch nicht zwei Schritte gemacht hatte, blieb sie stehen, in der offenkundigen Absicht, Warwara Petrowna den Vortritt zu lassen, die ihrerseits geradeswegs darauf losging, als ob sie niemanden vor sich bemerkte. In der ungewöhnlichen Höflichkeit der Frau Gouverneur lag zweifellos eine deutliche und in ihrer Art kluge Stichelei; so faßten es alle auf; so faßte es jedenfalls auch Warwara Petrowna auf; aber sie tat wie vorher, als ob sie niemanden bemerke, küßte mit einer Miene unerschütterlicher Würde das Kreuz und begab sich sogleich zum Ausgange. Ihr Livreediener bahnte ihr den Weg, obgleich auch ohne dies alle auseinandertraten. Aber unmittelbar am Ausgange, in der Vorhalle, versperrte ein dicht zusammengeballter Menschenhaufe ihr für einen Augenblick den Weg. Warwara Petrowna blieb stehen, und auf einmal drängte ein seltsames, auffallendes Wesen, eine Frauensperson mit einer Papierrose im Haar, sich durch die Menschen hindurch und fiel vor ihr auf die Knie. Warwara Petrowna, die sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ, namentlich nicht in der Öffentlichkeit, blickte sie würdevoll und streng an.
Ich beeile mich hier möglichst kurz zu bemerken, daß Warwara Petrowna zwar in den letzten Jahren außerordentlich ökonomisch, wie man sich ausdrückte, und sogar geizig geworden war, manchmal aber, und besonders zu wohltätigen Zwecken, mit dem Gelde nicht knauserte. Sie war Mitglied eines Wohltätigkeitsvereins in der Hauptstadt. In dem vorigen Hungerjahre hatte sie nach Petersburg an das Hauptkomitee zur Annahme von Unterstützungen für die Notleidenden fünfhundert Rubel geschickt, worüber bei uns viel gesprochen worden war. Ferner hatte sie in der allerletzten Zeit vor der Ernennung des neuen Gouverneurs die Gründung eines lokalen Damenkomitees zur Unterstützung der ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im übrigen Gouvernement bereits so gut wie zustande