Sie war ganz außer sich und in Verzweiflung.
»Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nikolajewna?« fragte ich erschrocken.
»Dieses Fräulein Lebjadkina, diese Lahme ... Ist es wahr, daß sie lahm ist?«
Ich war starr vor Erstaunen.
»Ich habe sie nie gesehen; aber ich habe gehört, daß sie lahm sei; noch gestern habe ich es gehört,« stammelte ich eilig und dienstfertig und ebenfalls flüsternd.
»Ich muß sie unbedingt sehen. Könnten Sie das noch heute so einrichten?«
Sie tat mir schrecklich leid.
»Das ist unmöglich; ich weiß absolut nicht, wie ich das machen sollte,« begann ich; »ich will zu Schatow gehen ...«
»Wenn Sie es nicht bis morgen einrichten können, so gehe ich selbst zu ihr, ganz allein; denn Mawriki Nikolajewitsch hat sich geweigert. Sie sind meine einzige Hoffnung; außer Ihnen habe ich niemanden; dummerweise habe ich mit Schatow gesprochen ... Ich bin überzeugt, daß Sie ein durchaus ehrenhafter Mann und vielleicht mir ergeben sind; machen Sie es doch möglich!«
Es wurde in mir der leidenschaftliche Wunsch rege, ihr in allem behilflich zu sein.
»Also ich werde es so machen,« sagte ich nach kurzer Überlegung: »ich will heute selbst hingehen und es unter allen Umständen durchsetzen, daß ich sie zu sehen bekomme! Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort; nur müssen Sie mir erlauben, mich mit Schatow ins Einvernehmen zu setzen.«
»Sagen Sie ihm, daß es mein dringender Wunsch ist, und daß ich nicht länger warten kann, daß ich ihn aber soeben nicht zu täuschen gesucht habe. Er ist vielleicht deshalb weggegangen, weil er sehr ehrenhaft ist und es ihm mißfallen hat, daß ich ihn anscheinend zu täuschen suchte. Ich habe ihn nicht zu täuschen gesucht; ich will wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...«
»Er ist ein ehrenhafter, durchaus ehrenhafter Mann,« bestätigte ich mit warmer Empfindung.
»Wenn es sich übrigens bis morgen nicht einrichten läßt, dann will ich selbst hingehen, mag daraus entstehen, was da will, und wenn es auch alle erfahren.«
»Vor drei Uhr kann ich morgen nicht bei Ihnen sein,« bemerkte ich nach einiger Überlegung.
»Also um drei Uhr? Also habe ich gestern bei Stepan Trofimowitsch richtig vermutet, daß Sie mir ein klein wenig ergeben sind?« sagte sie lächelnd, drückte mir eilig zum Abschiede die Hand und ging schnell zu dem alleingelassenen Mawriki Nikolajewitsch.
Als ich hinauskam, fühlte ich mich ganz niedergedrückt durch mein Versprechen und begriff gar nicht, was eigentlich vorgegangen war. Ich hatte eine Frau in wahrer Verzweiflung gesehen, so daß sie sich nicht davor gefürchtet hatte, sich durch ihr Vertrauen zu einem ihr fast ganz unbekannten Manne zu kompromittieren. Ihr weibliches Lächeln in einem für sie so schweren Augenblicke und der Hinweis darauf, daß sie schon gestern meine Gefühle bemerkt habe, gaben mir gewissermaßen einen Stich ins Herz; aber sie tat mir leid, sehr leid; das wars! Ihre Geheimnisse wurden für mich plötzlich etwas Heiliges, und wenn man sie mir sogar jetzt hätte enthüllen wollen, so hätte ich mir vermutlich die Ohren zugestopft und nichts weiter hören wollen. Ich ahnte nur etwas ... Und doch begriff ich gar nicht, auf welche Weise ich hier etwas ermöglichen könnte. Ja, ich wußte noch nicht einmal, was ich eigentlich ermöglichen sollte: eine Begegnung? Aber was für eine Begegnung? Und wie sollte ich die beiden zusammenbringen? Meine ganze Hoffnung beruhte auf Schatow, obgleich ich im voraus wissen konnte, daß er mir nicht behilflich sein werde. Aber dennoch eilte ich zu ihm.
IV.
Erst am Abend, es war schon sieben durch, traf ich ihn zu Hause. Zu meinem Erstaunen hatte er Besuch: Alexei Nilowitsch war bei ihm und noch ein mir nur wenig bekannter Herr, ein gewisser Schigalew, ein Bruder von Frau Wirginskaja.
Dieser Schigalew hielt sich schon seit zwei Monaten in unserer Stadt auf; ich wußte nicht, wo er hergekommen war; ich hatte über ihn nur gehört, daß er einen Aufsatz in einer fortschrittlichen Petersburger Zeitschrift habe drucken lassen. Wirginski hatte mich mit ihm gelegentlich auf der Straße bekannt gemacht. In meinem ganzen Leben habe ich nie einen Menschen mit so finsterem, mürrischem, verdrossenem Gesichte gesehen. Er sah aus, als erwarte er den Weltuntergang, und zwar nicht etwa irgendwann auf Grund von Prophezeiungen, die auch trügen könnten, sondern mit völliger Bestimmtheit, also zum Beispiel übermorgen vormittag um zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wir hatten übrigens damals kaum ein Wort miteinander gewechselt, sondern einander nur wie zwei Verschwörer die Hand gedrückt. Am meisten waren mir an ihm die Ohren aufgefallen, die von unnatürlicher Größe, lang, breit und dick waren und in eigentümlicher Weise vom Kopfe abstanden. Seine Bewegungen waren ungeschickt und langsam. Wenn Liputin sich manchmal in Zukunftsträumereien darüber erging, daß die Fourierschen sozialistischen Phantasien sich in unserm Gouvernement verwirklichen würden, so wußte dieser aufs genaueste Tag und Stunde, wann das geschehen werde. Er machte mir einen unheimlichen Eindruck; ich war erstaunt, ihn jetzt bei Schatow zu treffen, um so mehr da Schatow Besuch überhaupt nicht gern bei sich sah.
Schon als ich noch auf der Treppe war, hörte ich, daß sie sehr laut sprachen, alle drei zugleich, und, wie es schien, miteinander stritten; aber sowie ich erschien, verstummten sie alle. Sie hatten stehend gestritten; nun aber setzten sie sich auf einmal alle hin, so daß auch ich mich setzen mußte. Das dumme Stillschweigen wurde etwa drei volle Minuten lang nicht unterbrochen. Obgleich Schigalew mich wiedererkannte, tat er doch, als kenne er mich nicht, und das tat er gewiß nicht aus Feindschaft, sondern ohne besonderen Grund. Mit Alexei Nilowitsch begrüßte ich mich leichthin, aber schweigend und ohne Händedruck. Schigalew begann endlich, mich ernst und finster anzusehen, in dem sehr naiven Glauben, ich würde auf einmal aufstehen und hinausgehen. Schließlich erhob sich Schatow von seinem Stuhle, und alle andern sprangen plötzlich ebenfalls auf. Sie gingen hinaus, ohne Lebewohl zu sagen; nur sagte Schigalew, als sie schon in der Tür waren, zu Schatow, der ihnen das Geleit gab:
»Vergessen Sie nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind.«
»Ich schere mich den Kuckuck um Ihre Rechenschaft und bin keinem Teufel etwas schuldig,« erwiderte Schatow und legte, als die beiden heraus waren, den Haken vor die Tür.
»Narren!« sagte er, indem er mich anblickte und das Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog.
Er sah zornig aus, und es kam mir ganz seltsam vor, daß er von selbst zu sprechen anfing. Gewöhnlich war früher der Hergang der gewesen: wenn ich zu ihm kam (was übrigens nur sehr selten geschah), so setzte er sich finster in eine Ecke, gab ärgerliche Antworten, wurde erst nach langer Zeit lebendig und begann dann mit Vergnügen zu reden. Dafür machte er beim Abschiede wieder jedesmal unfehlbar ein mürrisches Gesicht und entließ seinen Gast, wie wenn er sich einen persönlichen Feind vom Halse schaffte.
»Ich habe bei diesem Alexei Nilowitsch gestern Tee getrunken,« bemerkte ich. »Er scheint ja ein fanatischer Atheist zu sein.«
»Der russische Atheismus ist noch nie über die Witzelei hinausgekommen,« brummte Schatow, während er eine neue Kerze an Stelle des bisherigen Stümpfchens aufsteckte.
»Nein, dieser schien mir nicht auf Witzeleien auszugehen; er versteht nicht einmal einfach zu reden, geschweige denn Witze zu machen.«
»Es sind schlappe Kerle; das kommt alles von der lakaienhaften Denkweise,« bemerkte Schatow ruhig, setzte sich in eine Ecke auf einen Stuhl und stützte sich mit beiden Handflächen auf die Knie.
»Haß ist auch dabei,« sagte er, nachdem er etwa eine Minute lang geschwiegen hatte. »Sie würden die ersten sein, die kreuzunglücklich wären, wenn Rußland plötzlich auf irgendwelche Weise umgestaltet würde, selbst nach ihren Wünschen, und auf einmal unermeßlich reich und glücklich würde. Dann hätten sie niemand, den sie hassen und verhöhnen könnten, nichts, worüber sie spotten könnten! Bei ihnen ist nur ein tierischer, grenzenloser Haß gegen Rußland zu finden, der sich in ihren Organismus hineingefressen hat ... Und von Tränen hinter dem sichtbaren Lachen, von ›Tränen,