»Was wollen Sie, liebes Kind? Um was bitten Sie?« fragte Warwara Petrowna, indem sie die vor ihr Kniende aufmerksam betrachtete.
Diese sah mit einem überaus zaghaften, schüchternen, aber beinah andächtigen Blicke zu ihr auf und lachte auf einmal in derselben sonderbaren kichernden Manier wie vorher.
»Was hat sie? Wer ist sie?«
Warwara Petrowna ließ ihren befehlshaberischen, fragenden Blick bei den Umstehenden herumgehen. Alle schwiegen.
»Sind Sie unglücklich? Bedürfen Sie einer Unterstützung?«
»Ja ... ich bin gekommen ...« stammelte die »Unglückliche« mit einer Stimme, die vor Aufregung versagte. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu küssen ...« Und wieder kicherte sie.
Mit einem ganz kindlichen Blicke, so wie Kinder blicken, wenn sie schmeichelnd um etwas bitten, streckte sie den Arm aus, um Warwara Petrownas Hand zu ergreifen, zog ihn aber, wie erschrocken, auf einmal wieder zurück.
»Nur deswegen sind Sie gekommen?« fragte Warwara Petrowna mit mitleidigem Lächeln, zog aber sofort ihr Perlmutterportemonnaie aus der Tasche, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und reichte ihn der Unbekannten hin.
Diese nahm ihn. Warwara Petrownas Interesse war stark angeregt, und sie hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.
»Nun seht mal an, zehn Rubel hat sie ihr gegeben!« sagte jemand in der Menge.
»Gestatten Sie mir, bitte, Ihre Hand!« stammelte die »Unglückliche«; sie hielt mit den Fingern der linken Hand die empfangene Banknote an einer Ecke fest, so daß sie im Winde wehte.
Warwara Petrowna runzelte ein wenig die Stirn (es mußte ihr wohl etwas mißfallen) und hielt ihr mit ernster, fast strenger Miene die Hand hin; diese küßte sie ehrfurchtsvoll. In ihrem dankbaren Blicke leuchtete sogar eine Art von Entzücken. Und gerade in diesem Augenblicke kam die Frau Gouverneur heran, und hinter ihr her strömte die ganze Schar unserer Damen und höchsten Würdenträger. Die Frau Gouverneur mußte notgedrungen einen Augenblick im Gedränge stehen bleiben; und ebenso die andern.
»Sie zittern ja; frieren Sie?« fragte Warwara Petrowna plötzlich.
Sie warf ihren Mantel ab, den der Diener im Fallen auffing, nahm ihr schwarzes, sehr kostbares Schaltuch von den Schultern und hüllte den entblößten Hals der immer noch knienden Bittstellerin eigenhändig damit ein.
»Aber stehen Sie doch auf; erheben Sie sich; ich bitte Sie darum!«
Jene stand auf.
»Wo wohnen Sie? Weiß denn wirklich niemand, wo sie wohnt?« fragte Warwara Petrowna ungeduldig und sah sich rings um.
Aber die frühere Volksmenge war nicht mehr da; es waren nur bekannte, der besseren Gesellschaft angehörige Personen zu sehen, die den Vorgang verfolgten, die einen mit großem Erstaunen, andere mit schlauer Neugier und zugleich mit einer unschuldigen Freude an einem kleinen Skandal; wieder andere fingen sogar an, sich darüber lustig zu machen.
»Ich glaube, sie ist eine Angehörige eines gewissen Lebjadkin,« meldete sich schließlich ein gutmütiger Mensch mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage, nämlich unser achtungswerter und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew mit der Brille, dem grauen Barte, der russischen Tracht und dem in der Hand gehaltenen Zylinderhute. »Sie wohnen im Filippowschen Hause in der BogojawlenskajaStraße.«
»Lebjadkin? Im Filippowschen Hause? Davon habe ich schon etwas gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch; aber wer ist dieser Lebjadkin?«
»Er nennt sich Hauptmann und ist, man muß sagen, ein unsolider Mensch. Dies aber ist jedenfalls seine Schwester. Ich denke mir, daß sie jetzt der Aufsicht entlaufen ist,« fügte Nikon Semjonowitsch leiser hinzu und blickte Warwara Petrowna bedeutsam an.
»Ich verstehe Sie, ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch. Sie sind Fräulein Lebjadkina, liebes Kind?«
»Nein, ich heiße nicht Lebjadkina.«
»Aber vielleicht ist Lebjadkin Ihr Bruder?«
»Ja, Lebjadkin ist mein Bruder.«
»Also, da werde ich es so machen: ich werde Sie jetzt mit mir in meine Wohnung mitnehmen, liebes Kind, und von da sollen Sie zu Ihrer Familie gebracht werden. Wollen Sie mit mir mitfahren?«
»Ach ja, gern!« antwortete jene und klatschte in die Hände.
»Tante, Tante! Nehmen Sie mich auch mit!« rief Lisaweta Nikolajewna.
Ich bemerke, daß Lisaweta Nikolajewna mit der Frau Gouverneur zusammen der Messe beigewohnt hatte, während Praskowja Iwanowna unterdessen auf ärztliche Vorschrift spazieren gefahren war und zu ihrer Zerstreuung Mawriki Nikolajewitsch mitgenommen hatte. Nun verließ Lisa auf einmal die Frau Gouverneur und trat eilig zu Warwara Petrowna heran.
»Liebes Kind, du weißt, daß ich mich immer über das Zusammensein mit dir freue; aber was wird deine Mutter sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll, stutzte aber plötzlich, da sie Lisas ungewöhnliche Aufregung bemerkte.
»Tante, Tante, ich muß jetzt unter allen Umständen mit Ihnen mit,« bat Lisa inständig und küßte Warwara Petrowna.
»Mais qu'avezvous donc, Lise?« fragte die Frau Gouverneur erstaunt und nachdrücklich.
»Ach, verzeihen Sie, mein Täubchen, chère cousine, ich muß zu meiner Tante!« erwiderte Lisa, indem sie sich schnell zu ihrer unangenehm überraschten chère cousine umwendete und sie zweimal küßte. »Und sagen Sie doch zu Mama, sie möchte gleich mit dem Wagen zur Tante fahren, um mich abzuholen; Mama wollte ganz bestimmt, ganz bestimmt mit herankommen; sie hat es vorhin selbst gesagt; ich habe vergessen, es Ihnen mitzuteilen,« sagte Lisa eilig. »Pardon! Seien Sie nicht böse, Julie, chère ... cousine ... Tante, ich bin bereit!«
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, so laufe ich hinter Ihrem Wagen her und schreie Ihnen nach,« flüsterte sie schnell und in Verzweiflung dicht an Warwara Petrownas Ohr.
Es war nur gut, daß es niemand gehört hatte. Warwara Petrowna trat sogar einen Schritt zurück und sah das wahnsinnige Mädchen mit einem durchdringenden Blicke an. Dieser Blick entschied alles: sie beschloß, Lisa unter allen Umständen mitzunehmen.
»Dem muß ein Ende gemacht werden!« entfuhr es ihr leise. »Nun gut, ich werde dich mit Vergnügen mitnehmen, Lisa,« fügte sie sogleich laut hinzu, »selbstverständlich nur, wenn Julija Michailowna einwilligt, dich fortzulassen,« wandte sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Frau Gouverneur.
»Oh, gewiß; ich will Sie dieses Vergnügens nicht berauben, um so weniger, da ich selbst ...« begann Julija Michailowna auf einmal mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit zu plaudern, »da ich selbst recht wohl weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen wir auf unseren Schultern haben.« Hier lächelte Julija Michailowna bezaubernd.
»Ich