Und so kam es wie es kommen musste. Nummer 101 sollte der Mittelsmann in der Schweiz werden. Der Olivenölexport lief wie bis anhin über die gewohnten Kanäle in die Schweiz und von dort ins benachbarte Ausland, vor allem nach Deutschland. Was die Zielperson 101 jedoch nicht gewusst haben will, dass seine Frau hier ihre Hände im Spiel haben soll. Olivenöl wurde nämlich erst seit 2016 in die Schweiz importiert, vorher nur nach den USA und China. Die «liebe» Ehegattin soll es verstand haben, ihre Beziehungen zu nutzen und den Vertriebskanal sicherzustellen.
Die Ermittlungen hätten zudem ergeben, dass Frau 101 auch in der Reisebranche tätig sei. So sei sie eingetragene Geschäftsführerin eines Reisebüros in Dubrovnik, welches spezialisiert für Kreuzfahrten auf dem Mittelmeer sei. Die Frau sei ganz schön geschäftstüchtig.
Unseren Erkenntnissen zufolge dienten die Schiffe nun aber, nota bene unter Schweizer Flagge fahrend, dem Menschenhandel und dem Menschenschmuggel. Personen würden «gesammelt» und in den Häfen von Dubrovnik und Durrës, dem grössten Hafen in Albanien, an Bord gebracht. Dort würden sie den übrigen Touristen entsprechend eingekleidet, um sie alsdann an geeigneter Stelle, vorweg in Nizza und Marseille wieder von Bord zu lassen. Selbstverständlich würden die betreffenden Personen dort von Schleppern in Empfang genommen und ihren Zielorten und Zwecken zugeführt. Eine raffinierte Art und Weise, um Personen einzuschleusen und sie der Sklaverei - in welcher Form auch immer - zuzuführen.
«Und wusste Herr 101 davon?», wollte Philippe ergänzend wissen. «Das wissen wir ja eben auch nicht. Und deshalb brauchen wir ja Sie. Sie sollen Licht ins Dunkel bringen.»
Was auffällig sei, dass die Visaanträge beim SEM, dem Staatssekretariat für Migration, welches dem EJPD untersteht, stets von demselben Reiseveranstalter, einem Ableger des Reisebüros von Frau 101 in der Schweiz, gestellt würden. Auf mysteriöse Art und Weise würden die betreffenden Personen jedoch den Schengenraum nie wieder verlassen und so seien sie auch auf die Unstimmigkeit aufmerksam geworden.
«Hmm, in der Tat merkwürdig. Und sie vermuten nun, dass es auch im EJPD, respektive bei fedpol, dem Bundesamt für Polizei, Mitarbeiter gibt, welche davon Kenntnis haben – in welcher Form auch immer?» «Und wie sieht es denn mit der Bundesanwaltschaft aus? Das wäre doch ein Fall für die Bundesanwaltschaft?»
«Ja, das stimmt. Aber die haben momentan andere Probleme.» - Auch das stimmte natürlich, nachdem wichtige Funktionäre dem Anschein nach an Amnesie leiden und sich an nichts mehr oder zumindest nicht an wesentliche Treffen erinnern können, wie der Tagespresse zu entnehmen war.
«Gut, und wie sieht es nun mit dem Organhandel aus, welche Frau Sütterli ebenfalls angesprochen hat?» - «Hier sind wir noch in den Anfängen, hingegen glauben wir, dass Herr Smith uns hier weiterhelfen kann.»
Tom Smith führte in der Folge aus, dass der Handel mit Organen in den USA ein florierendes Geschäft sei. Für Bauchspeicheldrüsen werde je nach Klientel ein sechs- bis siebenstelliger Betrag bezahlt. Auch die Milz sei sehr gefragt, nebst Nieren und anderer Eingeweide. – Das Ganze tönte zwar sehr makaber, schien aber Realität zu sein. Immerhin haben Milliardäre nichts zu verlieren, auch wenn sie noch so hohe Summen zahlen, um ihr Leid abzuwenden. Bekanntlich hat das letzte Hemd auch für sie keine Taschen.
Ob der ganzen Tragik bleibt zu berücksichtigen, dass die meisten Organspender dies wohl nicht nur freiwillig machten, namentlich dann, wenn der Körper lediglich über ein Organ für die Lebenserhaltung verfügt.
Philippe war ob der Nüchternheit des Referenten erstaunt und er fragte sich, wie man nur so abgestumpft werden kann. Liegt doch jedem Fall ein Schicksal zugrunde, das es nur zu erahnen gilt. Auch werden wohl kaum nur Verkehrsopfer mit tödlichem Ausgang oder andere bedauernswerte Geschöpfe in die Lage versetzt, ihre Organe zu spenden. Hier gilt es Verbrechen zu vermuten, welche unter dem Straftatbestand der vorsätzlichen Tötung stehen.
«Und was wollen Sie nun konkret von mir, Frau Vögtli?», erkundigte sich Philippe. «Eben, dass Sie Licht ins Dunkel bringen.» - So einfach dies tönte, so schwierig schien die Aufgabe, und Philippe bedingte sich eine Bedenkzeit aus, um über die ganze Sache nachzudenken. Ihm war momentan völlig unklar, sollte er den Auftrag annehmen oder nicht, und wie er Licht ins Dunkel bringen könnte. Auch hatte er momentan keine Ahnung, wie die Verdächtigungen entkräftigt oder eben auch bestärkt werden könnten. Ebenfalls wusste er nicht, was er sich mit dem Ganzen einhandeln würde, schien doch eine grössere kriminelle Organisation dahinter zu stehen und in einer One-Man-Show liesse sich diese wohl kaum hinter Schloss und Riegel bringen.
Philippe verabschiedete sich von den Anwesenden und er stellte Frau Vögtli eine Antwort innert Wochenfrist in Aussicht, selbstverständlich über ihren Mittelsmann.
Ein Auftrag für Philippe
In der Zwischenzeit stand Weihnachten vor der Tür. Philippe rang nach wie vor mit sich, wie er sich in der ganzen Angelegenheit verhalten wollte. Auch war ihm unwohl dabei, dass er bereits schon so viel wusste. Das war nie gut. Weniger oder nichts zu wissen, liess einem zumeist besser schlafen.
Schliesslich besprach er das Ganze nochmals mit Deborah. Diese hielt dafür, dass er besser die Finger davonlassen und sich seinem Rentendasein widmen sollte, im Wissen darum, dass dies nur leere Worte waren. Sie kannte ihren Mann nur allzu gut, als dass dieser, hatte er einmal Lunte gerochen, der Sache nicht auf den Grund gehen wollte. Und so war es auch hier.
Philippe liess Frau Vögtli über ihren Mittelsmann per E-Mail ausrichten, dass er unter den folgenden Voraussetzungen bereit sei, den Auftrag anzunehmen:
Er wolle einen konkreten, schriftlichen Auftrag vom Bund, welcher ihn ermächtige, tätig zu werden. Wer diesen unterzeichne sei ihm egal.
Er verstehe seine Tätigkeit im Auftrag der Aufsichtskommission des Bundes, wo es darum gehe, die Abläufe im EJPD, namentlich im Bundesamt der Polizei, dem SEM und in der Bundesanwaltschaft, aber auch in einzelnen Polizeikorps zu überprüfen, mit dem Zweck Doppelspurigkeit zu vermeiden.
Er wünsche verbindliche Ansprechpersonen in diesen Diensten; zudem eine den Umständen entsprechend möglichst offene Kommunikation mit diesen und ein fixes Büro bei fedpol.
Schliesslich erhoffe er sich auch eine der Brisanz des Falles entsprechende Honorierung, sei er doch als Rentner einem Zustupf nicht abgeneigt.
Last but not least sei das Honorar unabhängig vom Ergebnis seiner Abklärungen geschuldet.
Weihnachten war für Philippe immer etwas Besonderes. Man kam in der Familie zusammen und genoss die gemeinsame Zeit. Schon als Kind hatte er diesen Moment in sich aufgesogen, und er wollte Gleiches auch seinen Kindern schenken. Es kam nicht auf die Geschenke an, es kam darauf an, wie man sich gab und wie man miteinander umging. Das Fest der Liebe war für ihn wichtiger als Ostern oder Pfingsten, obschon in der Bibel etwas anderes steht. Die Geburt Jesu verstand er als Auferstehung und dies gleichsam der Geburt eines jeden Kindes.
Die wärmenden Lichter erfüllten sein Herz, und er liebe es, am Abend durch die Stadt zu laufen, um eben diese Lichter einzufangen. Das Ganze hatte für ihn etwas Mystisches, etwas Verborgenes und dieses galt es zu erforschen. – Eben ähnlich der Frage, auf die er noch keine Antwort hatte. Philippe war neugierig, wissbegierig und hungrig nach Antworten. Er stellte sich trotzig der Unwissenheit und er verzweifelte manchmal schier ob seiner Unfähigkeit, Dinge nicht oder nicht richtig erkennen und einordnen zu können. Er wollte alles und noch viel mehr wissen, im Wissen darum, dass dies unmöglich war. Und trotzdem hatte er den inneren Antrieb, Sachen auf den Grund zu gehen. – So auch im Fall Nummer 101.
Das Fest der Liebe kam mit Riesenschritten auf sie zu, und es galt doch noch das eine oder andere vorzubereiten und zu erledigen. Der Weihnachtsbaum wollte geschmückt werden, der Kühlschrank gefüllt und das Haus noch einmal von unten nach oben oder umgekehrt gesäubert werden. Schliesslich kamen die Söhne mit ihren Freundinnen und da wollte man eben einen guten Eindruck machen.
In all den Vorbereitungen klingelte das Handy von Philippe,