Abermals nahm er den ÖV um nach Bern zu gelangen. Beim Eingang zum Bundeshaus West musste er sich der Security stellen und er unterstrich, dass er um 1000 Uhr von der Generalsekretärin erwartet werde. Der Sicherheitsmitarbeiter checkte seine Angaben und gab ihm kurze Zeit später zur Antwort, dass er im Wartezimmer abgeholt werde.
Wie nicht anders zu erwarten, war die Person, die Philippe abholte, Frau Sütterli. Sie schien wirklich eine zentrale Rolle zu spielen und sich in nächster Nähe zur Generalsekretärin zu befinden. Die Generalsekretärin hiess Vögtli, wie Philippe in seiner Unwissenheit dem Staatskalender der Bundesverwaltung entnommen hatte. Frau Irène Vögtli sollte hier also das Sagen haben.
«Guten Tag Herr Baumann, mein Name ist Irène Vögtli. Ich bin die Generalsekretärin von Bundesrat … ja sie wissen schon von wem. Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und möchte sogleich in ‘medias res’ gehen, wenn ihnen das recht ist.»
Frau Vögtli wusste sich auszudrücken und signalisierte dadurch, ihren Willen durchzusetzen. Offensichtlich war sie es auch gewohnt, Befehle zu erteilen und deren Umsetzung zu kontrollieren. Sie schien die Sache im Griff zu haben, auch wenn das Ganze nicht nur sympathisch herüberkam. Überdies liess sich Frau Vögtli gerne als ‘Madame’ ansprechen. Dies hängt mit ihrer Kindheit zusammen, denn sie wuchs mit ihren Eltern unter französischem Namen in der Westschweiz auf. Den Namen Vögtli hatte sie behalten, wenngleich sie sich von ihrem Mann vor ein paar Jahren hatte scheiden lassen. Wie es schien und so wird es auch portiert, hatte in der Ehe Vögtli Madame die Hosen an.
«Die beiden Herren an meinem Tisch haben Sie ja bereits kennengelernt. Herr Pulvermacher ist Mitarbeiter des deutschen Bundesnachrichtendienstes und Herr Smith ist Mitarbeiter beim CIA. Beide Herren geniessen mein volles Vertrauen, ebenso wie Frau Sütterli, die sie ja auch schon kennengelernt haben.» «Aber nehmen sie doch bitte Platz, Herr Baumann.»
Vom Tonfall her klang dies mehr wie ein Befehl als eine Einladung, und Philippe wusste eigentlich gar nicht, was er hier sollte. Am liebsten wäre er auch jetzt wieder aufgestanden und hätte Frau Vögtli die kalte Schulter gezeigt, so unfreundlich wollte er dann aber doch wieder nicht sein und er harrte er der Dinge, die da kommen mochten.
Frau Vögtli wurde nun einiges direkter als Frau Sütterli. Sie stellte vorweg fest, dass der Bundesrat voll im Bild sei und sie das ‘Pleinpouvoir’ erhalten habe.
Philippe hielt sich nicht dafür nachzufragen, ob dieses ein Entscheid des Gesamtbundesrates war oder «nur» von ihrem Departements Vorsteher. Damit hätte er den Bogen wohl überspannt und das wollte er nun auch wieder nicht. Also beschloss er, sich einmal anzuhören, was Madame Vögtli zu sagen hatte.
«Wie Sie wissen, und es würde uns dann schon noch interessieren, woher Sie Ihr Wissen haben, sitzt seit gut einer Woche ein hochrangiger Polizeichef in Tirana in Untersuchungshaft. Ein übereifriger, neugewählter Minister hatte dies veranlasst, wahrscheinlich um sich gegenüber der EU zu profilieren. Sie wissen ja, dass Albanien EU- Kandidat ist, und da gilt es zu markieren, wo man nur kann. Leider kam uns der «liebe» Minister in die Quere; wir hatten den Polizeichef nämlich schon seit längerem im Auge, und so mussten wir neu disponieren. Für die hiesigen Stellen ist der Polizeichef erkrankt und liegt in einem Spital in Tirana. Besuche sind vordergründig aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht möglich.»
Philippe interessierte sich natürlich vorweg, um wen es sich bei diesem Polizeichef denn handelte und er erkundigte sich danach. Frau Vögtli schrieb den Namen auf einen Zettel und sie zeigte ihn ihm. Der Name war Philippe nicht unbekannt, er vermied es allerdings, sich anmerken zu lassen, wie gut er diese Person kannte.
«Nennen wir die Person einfach Zielperson Nr. 101», befand Frau Vögtli. – Also gut, warum nicht, dachte Philippe. Aber wer sind dann Zielperson 100 und Zielperson 102, und wer waren die Zielpersonen 1 – 99? – Philippe stellte diese Frage nicht.
Nun wurden von Seiten von Frau Vögtli die Spielregeln bekannt gegeben. Sie hielt fest, dass dieser Besuch bei ihr einmalig bleiben müsse und weitere Kontakte nur über ihren Mittelsmann, allenfalls über Frau Sütterli erfolgen sollten. Sie nannte ihm als Mittelsmann einen ihm vertrauten Journalisten namens Fred Würgler.
Fred oder Freddy Würgler – niemand nannte ihn Alfred – war jahrelang Auslandkorrespondent für das Radio SRF und zuständig für den Balkan und den Nahen Osten. Er gilt als profunder Kenner dieser Regionen, wobei es historisch betrachtet und mit Blick auf die Entwicklung des «Osmanischen Reiches» Sinn macht, hier aus einer Hand zu berichten. In der Zwischenzeit war Fred allerdings ins Mutterhaus zurückberufen worden und moderiert dort nun Sendungen mit Auslandbezug, vornehmlich zu den eben erwähnten Regionen.
Philippe hatte Fred zuletzt vor etwas mehr als einem Jahr getroffen und sie tauschten sich über ihre Zukunft aus. Fred war allerdings einiges jünger als Philippe und so war es für ihn noch nicht richtig an der Zeit, darüber nachzudenken, was er einmal machen würde, wenn er pensioniert wäre. Dies muss auch nicht verwundern, gibt es doch kaum einen Journalisten, wenn dieser seinen Beruf mit Herzblut ausübt, dass er zwischen Berufsleben und Rentendasein unterscheiden kann. Die ihnen angeborene Neugierde begleitet sie zeitlebens und hält sie dadurch auch wach an Geist. – So wird es mit Sicherheit auch einmal bei Fred sein.
«Was wird denn nun aber der Zielperson 101 konkret vorgeworfen?» So die Erkundigung von Philippe. «Unseren Informationen zufolge soll die betreffende Person im grossen Stil mit Drogen handeln.» Was, das konnte Philippe sich nun ganz und gar nicht vorstellen. «Und wie kommen Sie darauf?» «Unsere Vertrauensperson in Athen, respektive seine Vertrauensperson in Tirana hat uns folgendes berichtet»:
Sie hätten Zielperson 101 schon seit Längerem auf dem Radar gehabt. Er sei dadurch aufgefallen, dass er immer wieder Kontakt zu einflussreichen Personen in Tirana gesucht habe. Seine Frau sei zwar Kroatin, spreche aber aufgrund ihrer ursprünglichen Abstammung fliessend Albanisch und besitze grössere Ländereien in der Umgebung von Tirana. Die Ferien verbrächten die beiden deshalb oft in dieser Gegend.
Nun sei den Behörden aufgefallen, dass Zielperson 101 sehr oft den Eigenkonsum übersteigende Mengen an Olivenöl eingekauft habe und dieses in Eichenfässer zu 5 Litern habe abfüllen lassen. Das Olivenöl sei von hervorragender Qualität, sei kalt gepresst und stamme von Bäumen, die teilweise weit mehr als hundert Jahre alt seien. Die Erstehungskosten für Olivenöl in dieser Qualität sei in Albanien sehr gering und betrage pro Liter gerade mal wenige 100 Lek. Der Handelspreis für Olivenöl dieser Qualität lasse sich im Ausland fast nach Belieben nach oben schrauben.
Nun wollte es aber der Zufall, dass eines dieser Fässer beim Verlad in die Brüche gegangen sei. Das Öl habe sich auf den Platz ergossen, aber nicht nur das, auch ein bräunliches Pulver habe sich daruntergemischt. Die diskrete Untersuchung habe ergeben, dass es sich dabei um Heroin von bester Qualität handelte. Das Heroin sei feinsäuberlich verpackt und im Innern des Eichenfasses versteckt, und das Fass selber mit Olivenöl aufgefüllt worden. Für Drogenspürhunde sei es unmöglich, das Heroin so ausfindig zu machen. Das Heroin stamme vermutlich aus Afghanistan und werde über die Balkanroute nach Albanien gebracht.
«Und warum haben all die Informationen das EDA und nicht das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) oder zumindest das Verteidigungsdepartement (VBS), wo der Schweizer Nachrichtendienst angesiedelt ist?», wollte Philippe nun wissen. – «Ja, die Geschichte geht weiter und lässt sich wie folgt zusammenfassen»:
Zielperson 101 sei mit dem Vorfall konfrontiert worden. Er sei zwar aus allen Wolken gefallen und wollte von Drogen nichts wissen, trotzdem liess er sich dem Anschein nach mit einem Schweigegeld und der Zusicherung, dass den Ländereien seiner Frau nichts geschehen werde, dazu überreden, Stillschweigen zur Sache zu halten. Mehr noch, es wurde ihm angedroht, sollte er nicht kooperieren, so würden er und seine Frau alles verlieren, was sie hätten. Ob dieser Drohung sah sich