„Wieso bist du denn vorhin nicht teleportiert?“, fragte sie verwundert. Er hatte ja diese Fähigkeit auch. „Als wir hierhin gegangen sind?“
Nico wich wieder ihrem Blick aus. „Ich hatte keine Kopfbedeckung...“, murmelte er beschämt.
„Hm, achso“, machte Jen. Das war natürlich ein Hindernis – deswegen trug sie beinahe immer einen Cap. Nico hatte den Kopf so von ihr weggedreht, dass ihr Blick auf die Wunde an seiner Wange fiel. Sie blutete nicht mehr, hatte aber dennoch einen roten Striemen hinterlassen. Ohne zu überlegen, hob sie die Hand und berührte ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen an der entstehenden Narbe. Er zuckte überrascht zusammen und sah Jen mit einem intensiven Blick an. Rasch nahm diese die Hand wieder weg. „Du bist verletzt“, wiederholte sie besorgt, was sie schon auf dem Weg bemerkt hatte. „Tut es weh?“
Nico schüttelte hastig den Kopf und Jen verdrehte die Augen. Sie hätte sich denken können, dass er sowieso nein sagen würde... Als die Stille anhielt, in der die beiden sich bloß anschauten, wechselte sie schnell das Thema.
„Zieh doch das nächste Mal einen Hoodie oder so an“, schlug sie leise vor und fügte dann mit einem belustigten Unterton hinzu: „Und schlag sie unsichtbar mit deinen Büchern zusammen.“
Nico lachte. „Gar keine so schlechte Idee.“ Er hatte ein ausgesprochen angenehmes Lachen, wenn er so befreit war, fand Jen. Tief und … charmant. Dennoch brauchten sie eine Lösung für Melissa und Jason! Es konnte ja nicht sein, dass sie in ewiger Angst lebten, jemand könne sie von hinten angreifen. Es war beängstigend, wie Jens Gedanken in der letzten halben Stunde schon tausend mal umhergehüpft waren, immer wieder in andere Richtungen.
„Wie lösen wir das Problem mit Mel und Jason?“, fragte sie und biss sich dann ertappt auf die Lippen, als sie merkte, dass sie ganz automatisch angenommen hatte, Mr. Asozial würde ihr helfen. Andererseits war er ja nur so abweisend gewesen, weil er nicht wollte, dass sie hereingezogen wurde. Außerdem war ja auch er in Gefahr. Es gab also keinen Grund, warum sie nicht zusammen arbeiten könnten.
Nico schien das „wir“ entweder nicht zu bemerken oder es störte ihn nicht. „Hm, ich schlage mal vor, wir beginnen beim Anfang...“ Er lächelte.
Erst wollte Jen empört auf seine leicht beleidigende Antwort reagieren, doch dann begriff sie, dass er das mit Humor meinte und musste selbst lachen. Sie traf so wenige Leute mit gutem Humor - siehe Gollum - dass sie nicht mit einer ironischen Haltung auf Leute zuging, da man nie wusste, ob das Gegenüber es richtig aufnahm. Zumal Nico nun wirklich eine ausgeprägte Portion Sarkasmus besaß. „Ich meine es ernst“, erwiderte Jen nun doch noch.
„Wir sollten zuerst mal herausfinden, weshalb die beiden unsere Kraft wollen. Wegen der Macht oder wegen einem besseren Grund?“, meinte Nico überraschend sachlich. „Wobei ich letzteres bezweifle.“
Jen nickte. „Okay.“ Das schien logisch. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Ähm, Nico, eins verstehe ich noch nicht...“, begann sie zaghaft. Jetzt, da sie das Geheimnis beinahe gelüftet hatte, wollte sie alles genau wissen. Seit 5 Jahren hatte Jen nicht gewusst, von wo und wieso sie ihre Kräfte hatte, und hatte es längst aufgegeben, es herausfinden zu wollen. Das Unwissen hatte sie jedoch immer beschäftigt, merkte sie jetzt. Aber Nico wusste vielleicht mehr - endlich hatte sie eine Chance, das Ganze zu klären. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie sich daran erinnerte, wie sie ihre Kräfte erlangt hatte. Durch den Kontakt mit dieser unheimlichen Frau.
„Was denn?“, unterbrach Nico sanft ihre Überlegungen.
Jen fasste sich wieder. „Also... weshalb bekommen wir diese Kräfte, bloß weil wir eine Frau berühren? Woher kommen diese Kräfte überhaupt? Wie weiß sie, ob wir damit umgehen können?“
Nico ließ sich sie Haare ins Gesicht fallen und seine Mundwinkel zuckten. „Allzu viel weiß ich auch nicht... Aber - es ist schwer, das zu glauben – die Dame hatte diese Kräfte auch. Und aus irgendeinem Grund hat sie uns diese übertragen, als wir sie anfassten. Woher diese Kräfte kommen - wieso - das kann ich nicht sagen. Aber... wenn du dich in ein fremdes, verstaubtes Haus traust, kannst du nicht ganz so hilflos sein und bist bestimmt nicht ungeeignet für eine solche Fähigkeit...“
„Lebt sie noch?“, fragte Jen aufgeregt und versuchte, die Informationen zu verdauen. Diese Frau war auch eine unsichtbare Seele? Und wieso lag sie damals nur herum?
„Nein.“ Nico sah weg und es war klar, dass er keine weitere Auskunft darüber geben wollte. Obwohl sie gerne gewusst hätte, weshalb die Frau nicht mehr lebte, beließ sie es dabei - sie wollte ihn nicht drängen und auf einmal schien sein Blick verschlossen. „Danke für... die Hilfe“, sagte sie stattdessen und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie an diesem Tag mehr zusammen geredet hatten als in den ganzen letzten paar Wochen. Und es war erstaunlich angenehm gewesen.
Nico schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz einen Schlag aussetzen ließ. „Kein Problem. Ganz meinerseits.“
Jen lächelte zurück und ihre Blicke trafen sich. Nicos Augen leuchteten in einem so intensiven Blau, dass Jen unwillkürlich ans Meer denken musste. Teilweise waren seine Augen von seinem dichten Haar bedeckt, aber das machte sie nur noch mysteriöser.
Nico schaute als erstes weg, wenn sich Jen nicht täuschte, waren seine Wangen gerötet. „Wie wär’s, wenn wir uns morgen für weiteres treffen?“, fragte er.
Jen nickte erfreut. „Können wir machen. Morgen ist Samstag, oder?“, fragte sie, eher um etwas gefragt zu haben, als dass sie es tatsächlich nicht wusste. Sie war aufgeregt wegen den Seelenjägern, aber auch ein wenig wegen... naja, Nico.
Nico nickte. „Ja. In dem Fall morgen? Oder hast du was vor?“
„Nein, morgen geht klar“, bestätigte Jen.
Der Abschied war schwierig. Keiner der beiden wusste recht, wie verabschieden - umarmen oder etwa die Hand schütteln? - und Jen winkte ihm schlussendlich einfach kurz zu und setzte den Cap auf. Eine Sekunde später war sie verschwunden. Nico schaute einen Moment auf die Stelle, an der Jen gerade noch gestanden hatte und ein sanftes Lächeln verzog sein Gesicht, als würde er sich an schöne Strandferien erinnern.
Samstag, 11:00 Uhr
Das Mädchen nahm den Jungen neben ihr bei der Hand und setzte sich zielstrebig in Bewegung.
Sie hatten schon zu viel Zeit damit vertrödelt, die Adresse der Göre herauszufinden, als dass sie jetzt so vor sich hinschleichen konnten! Unwirsch warf sie sich die langen blonden Haare über die Schulter und durchdachte erneut ihr Vorhaben. Sie würden die Kraft der unsichtbaren Seelen an sich reißen und nichts und niemand würde sie dieses Mal aufhalten. Alles war vorbereitet, sie mussten sie nur noch in die Falle locken. Es konnte doch nicht so schwierig sein, einen kleinen Jungen und ein rebellisches Balg zu fangen! Denn diese Kraft der unsichtbaren Seelen gehörte allein ihr. Naja, und noch ihrem Freund. Aber sie hatte es verdient, denn sie würde sie so anwenden, wie man eine solch große Gabe benutzte! Man versteckte sich nicht vor den Leuten, sondern man zeigte ihnen, was man ist. Eine solche Gabe gehörte in die Öffentlichkeit, gehörte gefeiert. Wenn sie den beiden ihre Kräfte rauben konnte, würde sie endlich in der Lage sein, das zu tun, wozu sie geboren war. Sie verzog ihre vollen Lippen zu einem hinterhältigen Lächeln, als sie daran dachte, wie einfach ihnen die zweite unsichtbare Seele in die Hände gerutscht war. Man brauchte diesen Burschen nur kurz in ein Haus zu setzen und schon verliebte sich eine in ihn. Wie töricht. Das Mädchen hätte sich eigentlich denken könnte, dass die beiden sich im Haus Lupos treffen würden, wo das doch der Ursprung des Ganzen war. Sie warf einen Blick auf ihren Begleiter. Mit den dunklen Augen, dem breiten Körperbau und der rostbraunen Haut sah er ziemlich gut aus - und war auch einschüchternd genug für ein kleines