Das Board und den Wecker fest umklammert, folgte sie Nico mit einem Sicherheitsabstand, da sie zwar unsichtbar, aber trotzdem vorhanden war. Mr. Asozial wählte eine kleine Gasse, an der etliche andere Gassen abzweigten. Sie wich einem überfüllten Mülleimer aus und rümpfte die Nase. In ruhigem Gang ging sie hinter ihm her, er wählte immer die kleinen Gassen Londons aus und nach einer Weile konnte Jen schon voraussagen, wo er abbiegen würde. Es waren fast keine Leute unterwegs, bloß in den Pubs hörte man lautes Gelächter. Jen aber war ganz auf ihr Zielobjekt fixiert und während sie ihm folgte, hatte sie längst die Übersicht verloren, welchen Weg sie gegangen waren. Diese Spionsache machte mittlerweile um einiges weniger Spaß als zu Beginn, befand sie, als sie ihm nun schon seit mehr als zehn Minuten auf den Fersen war. Er ging vermutlich nach Hause, aber Jen war einfach zu neugierig zu wissen, wo er wohnte, als dass sie aufgegeben hätte. Es stand fest, dass er eine Vorliebe für kleine Gassen – und gruslige Romane – hatte. Außerdem konnte es ja auch sein, dass er sich plötzlich für die schnellere Variante entschied und sich vor ihren Augen in Luft auflösen würde. So wäre die Frage, ob er auch diese Fähigkeiten besaß, geklärt.
Jen betrachtete einen überfüllten Pub, der zu ihrer linken war und wünschte sich fast, Nico würde da reingehen, denn sie hatte sich schon seit Lucy in Frankreich war nie mehr in einem Pub aufgehalten. Und dieser hier sah toll aus, es lief sogar Musik. Aber als sie wieder nach vorne schaute, spazierte Mr. Asozial zielstrebig weiter. Jen warf einen letzten sehnsüchtigen Blick nach hinten, bevor sie sich wieder Nico zuwandte.
Aber dieser war auf einmal weg.
Spurlos verschwunden.
Jen blieb verblüfft stehen und zog scharf die Luft ein. War er gerade teleportiert? Oder hatte er sich unsichtbar gemacht? Jen rannte an die Stelle, an der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte und entdeckte eine kleine Straße rechts neben ihr. Mist! Vielleicht war er auch einfach da abgebogen, als sie zurückgeschaut hatte? Sie hatte ihn verloren, nur weil sie einem Pub hinterhergetrauert hatte! Am liebsten hätte Jen laut gebrüllt und Mr. Asozial sein blödes Buch auf den Kopf gehauen, doch sie beschränkte sich auf ein wütendes Knurren und teleportierte enttäuscht nach Hause. Das Ganze Verfolgen hatte rein gar nichts gebracht, sie konnte immer noch nicht sagen, ob er jetzt teleportiert war oder bloß in die Gasse abgebogen. Missmutig verbesserte sie noch ihren Englischaufsatz über die Zeit, den Gollum ihr korrigiert zurückgegeben hatte - zu ihrem Erstaunen war er ganz zufrieden gewesen. Doch bestimmt war auch die Verbesserung noch voller Fehler, weil sie in Gedanken immer noch bei der kleinen Gasse und Nico hing.
Das nächste Mal, als Jen im Haus Lupos saß und Mr. Asozial „Skulduggery Pleasant - Duell der Dimensionen“ las - ein eher dickes Buch übrigens - konnte sich Jen eine Bemerkung nicht verkneifen: „Ist es nicht langweilig, ein Buch über einen Toten zu lesen?“
Nico schaute auf, ein wenig verdutzt und irgendwie auch verärgert, dass sie ihn angesprochen hatte. „Nein. Eine Kleinigkeit wie der Tod kann ihm nichts anhaben“, erwiderte er.
„Hä?“, machte Jen äußerst intelligent.
„Skulduggery. Er ist sozusagen ein lebendes Skelett. Außerdem sind die anderen Protagonisten einigermaßen normale Menschen.“
„Aha.“ Jen zog in heuchelndem Interesse die Augenbrauen hoch. Das tönte abstrakt.
„Das Buch würde dir gefallen“, meinte Nico und schlug es wieder auf. Er war schon fast in der Mitte.
„Woher willst du wissen, was mir gefällt?“, fragte Jen frech.
Nico legte den Kopf schräg, Jen hatte es zu ihrer Genugtuung geschafft, ihn für einen Moment sprachlos zu machen.
„Keine Ahnung. Ich denke es einfach“, antwortete er nach einer Weile doch noch.
„Hm.“ Jen sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und versuchte, ihn nicht anzustarren. „Ich lese nicht gerade viel.“
Nico grinste. „Dann kannst du ja damit anfangen“, erwiderte er und Jen lachte spöttisch auf.
3. Unsichtbare Seelen
Es war freitagnachts, Jen fuhr auf dem Skateboard in die Stadt, den Cap verkehrt herum aufgesetzt. Sie wollte ein paar neue Sommerkleider einkaufen gehen, hatte ihrer Mutter aber versprochen, dass sie um 11:00 Uhr wieder nach Hause kam. Heute waren die Läden ausnahmsweise länger geöffnet, weil irgendein Feiertag war, dessen Namen Jen wieder vergessen hatte. Als sie das Skateboard zum Überqueren einer Straße in die Hand nahm und wartete, dass die Ampel grün wurde, ließ sie ihren Blick über die Menschenmenge gleiten. Doch da sprang ihr ein Mädchen in die Augen und sie schaute wieder zu ihr zurück. Das Mädchen stand ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite und war auffallend hübsch. Sie hatte hellblondes langes Haar und grüne, große Augen. Hippie-mäßig hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden, das dieselbe Farbe hatte wie ihre Augen. Die Ampel wurde grün und Jen wäre beinahe einfach stehen geblieben und hätte die Blondine angestarrt, wenn diese sich nicht abrupt in Bewegung gesetzt hätte. Als sich ihre Wege kreuzten, schaute ihr das Mädchen in die Augen und auf einmal war ihr Blick eiskalt. Jen lief ein Schauer über den Rücken und sie beeilte sich, die andere Straßenseite zu erreichen. Doch einer Intuition folgend drehte sie noch einmal um und vor Überraschung klappte ihr der Mund herunter. Das Mädchen ging zielstrebig auf einen Jungen auf der anderen Straßenseite zu. Einen Jungen mit schönen blauen Augen, dichtem schwarzen Haar und die feinen Gesichtszüge zu einem arroganten Grinsen verzogen.
Nico.
War er die ganze Zeit hinter ihr gewesen?
Jen schloss den Mund mit einiger Anstrengung und verspürte einen seltsamen Stich in ihrer Brust. War sie etwa eifersüchtig, dass Mr. Asozial ein Date mit einer hübschen Blondine hatte? Quatsch! Jen kniff die Augen zusammen und wollte sich gerade wegdrehen, als sie sah, wie sich Nicos Augen beim Anblick des Mädchens erstaunt weiteten. Oder war es Entsetzen? Jen unterdrückte den Drang, der Tussi ihr Skateboard an den Kopf zu schleudern. In dem Moment passierte etwas äußerst Seltsames:
Eine tiefe Stimme, die sich als die von Nico entpuppte, schrie: „Jennifer, lauf!“ und Mr. Asozial drehte sich um und rannte in einem Affenzahn vor dem blonden Mädchen davon.
Jen reagierte, ohne zu wissen warum. Sie rannte los, in Richtung Nico - zu teleportieren war hier in der Öffentlichkeit zu riskant - und realisierte, wie die Tussi Nico hinterher sprintete. Wieso um Gottes Willen rannte er vor seinem - hübschen - Date davon? Was war da los?! Die beiden hetzten aus der Stadt hinaus, eine kleine Gasse hinunter und die Blondine holte immer weiter zu Nico auf. Jen fluchte, stellte sich auf ihr Skateboard und raste hinterher. Die Tussi kam immer näher, aber sie hörte die ungeölten Räder des Boards und legte einen Zahn zu. Zwar hatte sie gegen ein Board keine Chance, doch die Frage war nicht ob, sondern wann. Denn der Abstand zwischen Nico und dem Mädchen wurde immer kleiner, entweder wurde Mr. Asozial langsamer oder die Tussi schneller, Jen wusste es nicht. Sie gab mit dem linken Fuß an, beschleunigte und war fast bei der Blondine angekommen. Im selben Augenblick warf sich die Tussi auf Nico und riss ihn zu Boden. Um ein Haar wäre Jen neben den beiden weggefahren, sprang jedoch vom Skateboard herunter und kickte es beiseite. Die Tussi hatte Nico fest umklammert, dieser schlug ihr gerade sauber die Faust in ihr hübsches Gesicht. Schade.
Eine Bewegung zu Jens Linken ließ sie aufschrecken; da kam ein hochgewachsener Junge mit rostbrauner Hautfarbe auf sie zu und rief etwas, was verdächtig nach „Melissa, ich helfe dir!“ klang.
Jen machte sich unsichtbar, holte mit dem Bein aus und kickte dem Jungen zwischen die Beine. Er krümmte sich, stolperte und fiel zu Boden. Jen setzte ihm nach, schlug ihm die Faust ins Gesicht - wenn auch weniger stark als Nico - und hielt dann keuchend inne, um nach Mr. Asozial zu schauen. Melissas Kumpan lag mit schmerzerfüllter Miene vor ihr auf dem Boden. Nico hatte sich von Melissa befreit und stand umständlich auf. Jen ging auf ihn zu, griff nach ihrem Skateboard, packte Nico