Reflexion. Lena Dieterle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Dieterle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754184165
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ganz alleine, deinem Leben einen Sinn zu geben. In uns allen lebt eine Schöpferkraft, doch wir nutzen sie kaum. Was du hier im Moment in einer Reinheit erleben darfst, ist ein großes Geschenk. Denn das bist DU selbst.“

      „Hm… verstehe.“

      „C‘est bon. Du bist die Essenz deines Lebens. Genieße dich und lasse sie fließen, diese Energie.“

      „Ich will ja. Weißt du, was ich beobachtet habe? Da gibt es eine Stimme in mir, die immer noch redet, wenn alle anderen schweigen. Erst dachte ich, sie wird eh wieder nur schlecht reden und alles schwarzmalen, doch dann habe ich gemerkt… es ist diese eine Stimme, die gibt einfach nicht so schnell auf wie die anderen.“

      „Jede deiner Stimmen hat eine Daseinsberechtigung. Dazu möchte ich dir später gerne noch etwas zeigen. Doch zurück zu deinen Gefühlen. Was sind die Fähigkeiten, die dich als Justine ausmachen? Was kannst du gut? Worin bist du dir sicher?“

      „Puh… da muss ich selbst kurz nachdenken. Spontan würde ich sagen: nichts so richtig und doch vieles ganz gut. Ich bin mir oft unsicher. Und wenn ich dann nochmal nachdenke… meine ich, dass ich kochen kann, dann kann ich lesen und schreiben. Wobei ich mir bei Letzterem wieder gar nicht mal so sicher bin“. Justine überlegt einige Sekunden, spricht dann weiter: „…und das alles habe ich jetzt viele Tage lang unentwegt gemacht. Ich bin dem überdrüssig, ja… es langweilt mich. Ich habe alles niedergeschrieben, was mir in den Sinn kam und dabei irgendwann das Gefühl gewonnen, dass es von Tag zu Tag an Qualität verliert.“

      „Bien“, Tante Valerie nickt verständnisvoll. „Lies es nochmal, wenn du im nächsten Winter wieder an dieser Stelle bist. Es wird dich vielleicht überraschen, wie elementar gerade diese Texte für dich später einmal sein können, denn die Stille und Meditation kristallisieren erst das Wesentliche heraus.“

      „Ich will es versuchen und mit etwas Abstand nochmal lesen“, sagt Justine mehr zu sich selbst, während sie den Kopf in die Handfläche stützt und nachdenklich die Stirn runzelt.

      „Manchmal taugt es wirklich nicht, dann wirf es weg.“ Valerie macht eine Pause, bevor sie fragt: „So… was kannst du noch?“

      „Hm. Ich war wohl mal eine ganz gute Werbegrafikerin. Sonst kann ich neben den anderen Arbeiten im Haus nicht mehr besonders viel.“

      „Gut. Die Kreativität steckt in jeder deiner Zellen, das ist nicht bloß verbunden mit einem Beruf oder Titel. Nenne dich selbst ein Genie, sieh dich als Virtuose. Denke groß! Ich weiss, dass Unglaubliches in dir steckt. Du hast eine Art siebten Sinn für Dinge, einen Feinsinn oder Spürsinn… und das halte ich für eine sehr besondere Begabung. Du siehst nicht bloß einen Gegenstand, nein, du studierst ihn. Du fasst nichts einfach nur an, sondern du fühlst es. Du isst nicht, sondern du schmeckst heraus.“

      „Ach Tante Vally… ich danke dir, das hast du sehr schön beschrieben.“

      „Und wer sagt, dass dein Können auf das Hier und Jetzt beschränkt ist oder gar bleiben muss? Dass du nichts Neues dazu lernst? Dinge, die du eben heute noch nicht kannst.“

      „Das schon, doch hier alleine im Landhaus? Ich habe keinen Fernseher, keine neuen Bücher mehr, kein Puzzle, Rätsel oder sonst etwas. Was soll ich denn hier den Winter über Neues lernen?“

      „Musizieren!“, platzt es ganz spontan aus Valerie heraus. Diesmal lacht Justine laut und schüttelt den Kopf, während Valerie sie erwartungsvoll unter hoch gezogenen Augenbrauen anlächelt.

      „Na, da bin ich ganz und gar nicht geeignet. Da kommt nichts Gutes bei raus“, bekräftigt Justine ihr Kopfschütteln nochmal.

      „Muss denn immer gleich etwas dabei „raus kommen“? Ist es nicht manchmal der Prozess an sich, der uns nährt?“

       Und Tante Valerie hat wieder recht. Ich beschwere mich über Langeweile und versinke im Selbstmitleid, dabei habe ich so vieles noch gar nicht ausprobiert.

      „Schäme dich bitte nicht für das, was du nicht kannst… vor niemandem, auch wenn etwas nicht gelingt. Es geht da draußen allen Menschen gleich, glaube mir. Und jeder Schritt zu einer inneren Lebendigkeit, egal ob erfolgreich oder nicht, sollte schon für den neu beschrittenen Weg an sich belohnt werden. Ich wiederhole mich jetzt, doch erlaube dir, dich als einzigartig anzuerkennen. Traue dir zu, du selbst zu sein. Es ist für dich eine so große Chance, dich von den eigenen, einschränkenden Gedanken und Glaubenssätzen zu befreien. Lebe dich aus… in allen Bereichen, die dir nur einfallen. Tanze, spiele, singe, weine, lache so laut du magst“.

      Valerie spricht ruhig, doch mit Nachdruck. Es steckt viel Energie in ihrer Rede. Für eine Weile schweigen beide. Justine schenkt in zwei Tassen den durchgezogenen Hagebuttentee ein.

      Patience

      „Geh doch mal bitte dort zu der alten Anrichte. Unten in der mittleren Schublade, da liegt etwas für dich.“

      Justine zieht die Schublade vorsichtig heraus und sieht Blöcke, Stifte und ein altes Adressbuch.

      „Was genau meinst du, Tante Vally?!“

      „Schau genau hin.“

      Justine bückt sich etwas tiefer und sieht weiter hinten in der Schublade eine weitere Einlage, die ihr bisher nie aufgefallen war. Sie zieht sie vorsichtig heraus und findet zwei stoffbezogene Etuis. „Bring sie bitte hier her an den Tisch. Das Buch auch.“

      Justine trägt die Gegenstände zum Küchentisch.

      „Das sind meine beiden Kartenspiele. Jeden Winter habe ich mich darauf gefreut, sie wieder hervorzuholen. Ich habe nie im Sommer gespielt, denn da gab es andere Aufgaben. Auch wollte ich mir die Freude am Spiel ganz bewusst für die kalten, einsamen Tage aufbewahren.“

      „Was hast du denn damit alleine gespielt?“

      „Ich habe immer Patiencen gelegt. Dazu brauchst du niemanden. Du wirst sehen, es werden auch so genug am Tisch sitzen und es hilft, die Gedanken zu sortieren. Patience heißt übersetzt so viel wie Geduld. Und Geduld ist sicher auch etwas, was den meisten Menschen fehlt. Mir früher auch.“

      Justine öffnet beinahe andächtig das erste Etui. Der mintfarbene Seidenstoffbezug ist ein wenig abgegriffen, doch unter den Fingerspitzen ganz zart anzufassen. In goldenen Lettern ist das Wort Patience eingeprägt. Die Spielkarten sind ganz klein und mit einem ebenfalls goldenen Kantenschnitt verziert. Obenauf liegt die Pik Dame und das Herz Ass, um das sich handgemalte Maiglöckchen ranken, weitere filigrane Zeichnungen auf jeder einzelnen Spielkarte. Die Rückseite ist blau oder rot und zeigt ein Vogelpärchen.

      „Ich zeige dir, wie man eine Patience legt und dann spielen wir eine Zank-Patience gemeinsam.“

      „Sehr gerne.“

      Tante Valerie macht zwei Stapel, steckt die Karten mit einem Daumenstrich ineinander und hat einen großen gemischten Stapel in der Hand. Den Vorgang wiederholt sie drei Mal in nur wenigen Sekunden.

      „Wahnsinn, wie du die Karten mischen kannst“, staunt Justine, als würde sie einem Zauberer beim Spiel zusehen.

      „Ich habe sicher sechzig Jahre lang Karten gespielt, da weiß man, wie es geht. Ich zeige es dir später, üben musst du dann alleine.“

      „Abgemacht.“

      „Ich habe mir bei der Zank-Patience immer vorgestellt, dass jede Karte für eine Stimme in meinem Kopf steht. Natürlich stehen die Symbole im französischen Blatt eigentlich für etwas anderes.

      Die Farbe Kreuz stellt als dreiblättriges Kleeblatt den Bauernstand dar. Pik steht als Lanzenspitze für den Adel, Karo für das teilweise aufständige Bürgertum und Herz für Güte und Geistlichkeit. Doch das war mir egal. Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht.

      Für mich gibt es die Dame, die für Haltung und innere Größe steht. Es gibt den König, der in seiner hoheitlichen Würde unerschütterlich ist. Und es gibt den neugierigen Buben, der ein wahrer