Reflexion. Lena Dieterle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Dieterle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754184165
Скачать книгу
im großen Topf auf dem Herd und gibt dann alles in die Duschwanne. Zum Trocknen hängt sie die Handschuhe und Wäsche dann zwei Tage rund um den Kaminofen auf. Sie spült die leeren Einmachgläser aus und verstaut sie unsortiert in Kisten im hinteren Zimmer des oberen Stockwerks, um sie für die kommende Erntesaison wieder verwenden zu können. Justine verfällt in eine gewisse Form der Lethargie.

      Als die Kartoffeln und Linsen aufgebraucht sind, bleiben ihr nurmehr die Bohnen, Zutaten für Brot und einige Einmachgläser als Nahrungsmittel, da sie den Weg in die Stadt scheut. Nudeln hat sie schon Wochen keine mehr gegessen. Tag ein Tag aus kocht Justine die Hülsenfrüchte und versucht, immer wieder neue Kombinationen zu erfinden. Mal gibt es Bohnen geschwenkt mit Rosmarin und Knoblauch, abgelöscht mit einem intensiven Weißwein. Dann probiert sie ein cremiges Bohnen-Topinambur-Mus mit ordentlich Chili, Kreuzkümmel und Salz und kocht Bohnensuppe mit Minze, die im Garten immer noch frisch geerntet werden kann. Irgendwann isst sie die Bohnen einfach direkt aus der Pfanne oder dem Topf mit dem einzigen Ziel, danach wieder für eine Weile lang satt zu sein. Einen größeren Anspruch an die Tage hat sie gerade nicht. Nach der Ankunft im Landhaus hatte sie ganz bewusst der Zeit des meditativen Nichtstuns Raum gegeben. Doch heute nimmt sich das Nichtstun den Raum und die Zeit und beinahe ihre Identität. Wann der Gemütszustand kippte, kann sie heute nicht mehr sagen.

      In ihrem früheren Leben war Justine ständig unter Menschen und doch emotional so oft einsam. Diese Menschen verstanden sie nicht und sie verstand die Menschen nicht. Jus hat sich selten zugehörig gefühlt und nach einigen kräftezehrenden Versuchen, sich um der Menschen Willen zu verändern, wieder damit aufgehört. Heute lebt sie physisch alleine und sucht psychisch nach innerer Stabilität. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Es vergehen Stunden, die sie wach im Sitzen oder Liegen verbringt, ohne dabei anwesend zu sein. Würde sie gefragt werden, was ihr dabei alles durch den Kopf gegangen ist, sie könnte es nicht beantworten.

      Sie beschleicht das Gefühl, dass ihr in diesem Moment die sonst manchmal so lauten Stimmen in ihrem Kopf fehlen. Jus hatte diese Stimmen so oft verflucht, wenn sie neben dem Alltagslärm alle wild durcheinander auf sie eingeredet haben, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten. Die so mannigfaltigen Sinneseindrücke sorgten regelrecht für Aufstände in ihrem Kopf. Was dann folgte, war nicht selten eine tiefe Erschöpfung. Jemand, der lange überlastet von einem Aktionismus zum nächsten gerannt ist, der erlebt die tiefe Stille zunächst wie einen freien Fall. Genauso geht es Justine. Zu ritualisiert in der Gewohnheit und Akzeptanz dieser dauernden Überspannung, die sich einem ziemlich fremdbestimmten Leistungsbewusstsein unterworfen hat.

      In vielen ärztlichen Untersuchungen zum Beispiel werden lediglich die Symptome für die hervorgebrachten Leiden erkannt und therapiert. Dass es sich hierbei jedoch meist um ganz andere Ursachen handelt und das häufig nur daraus resultierende Autoimmunerkrankungen sind, die dann sichtbar werden, das wird zu wenig beleuchtet. Und wenn man sich hilfesuchend bei den anderen umsieht, bemerkt man, dass es allen doch irgendwie ähnlich geht… man schlussfolgert, dass dieses Leben vielleicht so sein müsse.

      Man verdrängt wesenseigene Impulse oder nimmt sie schlicht nicht mehr wahr, weil sie möglicherweise auch gar nicht mehr stattfinden.

       Wir Menschen kennen Stille nicht mehr. Als ich noch in Hamburg lebte, gab es nicht eine einzige Sekunde der Stille. Draußen in den Straßen sowieso nicht, doch auch nicht in der Wohnung. Trotz gutem Fensterglas hörte man Autos fahren, nur ganz entfernt und auch nur, wenn man sich darauf konzentrierte. Das Unterbewusstsein hörte alles. Man nahm das Gemurmel von Stimmen wahr, hier einen Ruf, dort ein Hupen. Und selbst wenn es nachts war und vermeintlich die Ruhe Einzug hielt, dann hörte ich das Surren des Kühlschranks, das kaum hörbare Klicken des Weckers oder Toms lautes Atmen. Hier im Landhaus, da klappert mal ein Fensterladen, das Holz im Kamin knackst. Doch wenn das Feuer herab gebrannt ist, dann schweigt selbst die Glut. Hier herrscht sie noch, diese totale Stille, in der der eigene Herzschlag das Lauteste ist, was man noch hören kann.

      Nun, wo auch die inneren Stimmen ihr kaum noch etwas mitzuteilen haben, da quält sie diese Stille in ihrer Gnadenlosigkeit. Die Welt hat vergessen, dass es mich gibt.

      Und wären da nicht Amie und der Kaminofen, sie würde vielleicht einfach gar nicht mehr aufstehen.

      Justine liest in dem Buch von Hildegard von Bingen:

      „Ohne die Frau könnte der Mann nicht Mann heißen, ohne Mann könnte die Frau nicht Frau genannt werden“, und philosophiert weiter. Ohne die Geräusche keine Stille… ohne Tag, keine Nacht. Ohne heute kein Morgen. Und dann richtet sie ihren Blick aus dem Fenster, Richtung Himmel. Draußen pfeift der eisige Wind und rüttelt an den Klappläden.

       Leopold, ich habe Angst. Kannst du bitte nochmal kommen… ich brauche deine Hilfe. Diesmal habe ich keine Furcht im Außen, sondern wohl die Angst davor, mir selbst zu begegnen.

      Und während diese eine letzte innere Stimme weiter einen Monolog hält, fällt Justine in ihrem Nachtlager am Ofen in einen tiefen Schlaf.

      Keine Angst

      Als sie die Augen öffnet, sieht sie Valerie mit einem langen Strickkleid am Küchentisch sitzen. Justine richtet sich auf ihrem Nachtlager auf und schaut ungläubig, bis ihre Augen die verschwommene Silhouette ganz langsam scharf zeichnen.

      „Bonjour, mon cher“. Ihre Stimme klingt sanft und gütig. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich hier nicht alleine lasse.“

      „Tante Valerie…?“

      „Ja, ganz recht. Was für eine schöne Frau du doch geworden bist, Jus“

      „Oh mein Gott, du bist wirklich nochmal zu mir zurück gekommen?“, fragt Justine ungläubig und reibt sich die noch vom Schlaf trägen Augen.

      „Psssst… ich war doch immer da.“ spricht die alte Dame ruhig. „Komm, schür den Ofen an und dann setz dich zu mir.“

      Justine heizt ein, setzt Wasser für einen Tee auf und nimmt eingewickelt in eine Decke neben ihrer Tante Platz. Sie beobachtet Valeries Gesicht, die fein geschwungenen Lippen und die Lachfältchen um die Augen… bisher hat sie diese nur auf dem Ölgemälde im Entrée

      gesehen.

      „Weißt du, mein Kind… mir ging es mal ganz ähnlich wie dir. Auch ich liebte die völlige Abgeschiedenheit, bis ich irgendwann drohte, an der Einsamkeit einzugehen. Diese langen, kalten Winter im Landhaus, darauf muss man vorbereitet sein. Ich habe dir bewusst nicht mehr dazu geschrieben, weil ich dich nicht abschrecken wollte und mir deiner Stärke bewusst war“. Sie macht eine kurze Pause. „Und auch mir fror in den ganz kalten Wintern die Wasserleitung zeitweise ein. Du hast gar nichts falsch gemacht, nichts besser oder schlechter. Sei doch bitte nicht so streng mit dir.“

      Justine atmet hörbar aus.

      „Ich weiß auch, dass Leopold bei dir zu Besuch war und nun hast du ihn erneut um Hilfe gebeten. Doch Leopold ist, wie du weißt, deine personifizierte Angst. Er wird heute nicht kommen, denn das, was du gerade empfindest… das ist keine Angst. Ich bin so stolz auf dich, dass du ihn damals herein gelassen hast und sei dir sicher, wenn du ihn wieder brauchst, wird er da sein. Und nun erzähle mir, was genau bedrückt dich gerade so?“

      „Danke, Tante Vally. Es ist ein großes Geschenk für mich, jetzt mit dir zu sprechen. Warum können wir denn bloß nicht gemeinsam hier leben?“

      „Mon dieu. Das Leben und den Tod, das befehlen wir nicht. Lass uns auf das konzentrieren, was wir selbst in der Hand haben.“

      „Also gut“. Justine setzt sich aufrecht hin und beginnt zu schildern: „Ich habe das Gefühl, in der Stille verrückt zu werden. Ich spreche seit einer gefühlten Ewigkeit mit niemandem mehr, außer kurz mit Peter… und nun ist auch er für einige Wochen verreist“. Tante Valerie lächelt und greift Justines Hände.

      Sie schweigt und lauscht interessiert, bis Justine fertig ist. Erst dann atmet sie tief ein, bevor sie anfängt, zu antworten.

      „Jetzt kommt eine weitere wichtige Lektion,