Reflexion. Lena Dieterle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Dieterle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754184165
Скачать книгу
Die Aufzucht von verletzten Jungvögeln hingegen ist sehr schwierig und für unerfahrene Menschen nicht zu empfehlen. Meist sind die Vogeleltern auch noch in Rufweite und kommen wieder zurück, wenn der Mensch sich zurückzieht.

      Sie liest neugierig weiter… über artgerechte Fütterung und darüber, dass unbedingt diese Kunststoffnetze um die Meisenknödel entfernt werden sollten, da die Vögel darin hängenbleiben können und jämmerlich verenden oder sich mindestens verletzen können. Eine Winterfütterung ab Oktober wird empfohlen, den Sommer über benötigen die Vögel in der Regel keine Unterstützung. Vogeltränken und Vogelbäder werden gerne angenommen, sollten aber regelmäßig gesäubert und mit frischem Wasser versehen werden. Zur Aufzucht von Jungvögeln kann man den Vogeleltern proteinreiches Insektenfutter anbieten, die Kerne von Sonnenblumen mit Schale sollten jedoch vermieden werden. Wenn die Eltern diese an den Nachwuchs verfüttern, kann dies dazu führen, dass die kleinen Bäuche aufplatzen. Puh, vieles davon habe ich nicht gewusst.

      Justine beschließt, im kommenden Sommer noch viel mehr an Samen und Nüssen einzusammeln und den Vögeln den Winter über anzubieten. Und sie wird unterschiedliche Nistkästen besorgen und in den Bäumen anbringen. Peter hilft ihr sicher dabei, die Leiter zu halten und ihr die Kästen hoch zu reichen. Die Nistkästen machen kaum Arbeit, werden lediglich im Herbst/Winter mal gereinigt und bieten den Vögeln eine angenehme und geschützte Unterkunft.

      Wenige Tage später soll Justine noch eine schöne Überraschung erleben. Denn es gesellt sich das erste Mal ein Grünspecht zu dem bunten Treiben hinzu. Mit seinen großen Augen und dem roten Schopf wirkt er besonders neugierig und es macht Justine große Freude, dem verhältnismäßig großen Vogel dabei zuzusehen, wie er sich einige von den Apfelstücken pickt. Er hüpft auf dem Boden umher und sieht so neugierig aus, wenn er seinen Kopf schief hält. Als drei Elstern auf dem Platz landen, schwebt der grüne Vogel davon. Seine Fluglinie gleicht der einer Welle auf offener See, mit einem schwungvollen auf und ab, es sieht sehr elegant aus.

      Spenden

      Als die Sonne sich wieder am Himmel zeigt, ist Justine voller Tatendrang. Nichts hält sie mehr im Haus, obwohl draußen immer noch Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. Sie backt zwei Gewürzbrote und einen Rosinenzopf mit den selbst getrockneten Trauben aus dem Sommer. Dann pumpt sie die Reifen ihres Rades auf und holt den Fahrradanhänger aus dem kleinen Schuppen hervor. Hier ein Tröpfchen Öl, da nochmal die Schrauben nachziehen und ab geht die Testfahrt. Funktioniert alles noch! Halleluja, jetzt bin ich sehr froh. Das Fahrrad ist neben ihren beiden Füßen im Moment das einzige Fortbewegungsmittel für Justine.

      Nachdem die Kisten mit der Leinenwäsche verstaut sind, legt sie noch die in Papier geschlagenen Backwaren an die Seite des Anhängers und macht sich auf den Weg in die Stadt. Das erste Mal seit über zwei Monaten, dass sie sich wieder in die Zivilisation wagt. Ganze 51 Tage lang hat sie außer zweimal mit Peter und im Traum mit Valerie mit keinem Menschen mehr gesprochen. Die Vorräte sind so gut wie aufgebraucht und Justine hat die Einöde inzwischen ganz schön satt. Zur Abwechslung mal ein richtig schönes Gefühl…

      Im Radio hat sie gehört, dass eine Pflegestelle für Abgabe- und Fundtiere dringend Unterstützung in Form von Sachspenden braucht. Justine kann nicht sehr viel beisteuern, aber die Leinenwäsche, die gibt sie gerne dort hin. Es dauert eine Weile, bis sie den richtigen Hof gefunden hat. Als sie auf die Klingel drückt, schlagen sofort einige Hunde an. Sie hört von Weitem eine Frau reden, wie sie die Tiere zur Ruhe anweist und schon im nächsten Moment öffnet sich das Tor.

      „Ja?“

      „Guten Tag, mein Name ist Justine Argon. Ich habe eine kleine Spende für Sie dabei.“

      „Jesus, mit dem Rad. Bei diesem Wetter? Kommen Sie schnell rein, sie erfrieren ja.“

      „Danke.“

      Justine lenkt das Rad mit Anhänger in den Hof und die Hunde kommen auf sie zugestürmt.

      „Ich hoffe, Sie haben keine Angst?“

      „Nein, ganz und gar nicht, ich liebe alle Tiere.“

      „Das ist gut, denn die werden sie jetzt so schnell nicht mehr los.“, lacht die Frau herzlich.

      „Wissen Sie, ich bin sehr froh darüber. Es ist lange her, dass ich so viel Aufmerksamkeit erhalten habe.“

      In der Wohnstube angekommen, nimmt Justine auf dem Sofas Platz. Sofort hat sie einen Hund auf dem Schoß und je einen weiteren links und rechts neben sich. Auf dem Fenstersims balanciert eine Katze, aus der Kuschelhöhle eines Kratzbaumes spitzen neugierig zwei Ohren hervor und in einem Holzhäuschen auf dem Boden, das von einem Kindergitter umrahmt wird, überwintern drei Fund-Igel.

      „Hier ist ganz schön was los.“, staunt Justine nicht schlecht.

      „Das ist noch gar nichts. Warten Sie mal, bis die Kinder vom Eislaufen kommen.“. Beide lachen.

       Wie unterschiedlich Menschen doch leben können.

      „Oh, beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, frisch gebacken.“

      „Mensch, das ist ja lieb. Und wie das duftet. Das werden wir uns heute Nachmittag gleich schmecken lassen. Ich komme so selten dazu, selbst zu backen. Zu viele Mäuler hier, die alle was haben wollen. Da reicht die Zeit nicht“, zuckt die Frau mit den Schultern.

      „Das verstehe ich. Können Sie denn die Leinensachen brauchen?“

      „Ja, das ist wunderbar. Vor allem, weil ich den Stoff ganz heiß waschen kann.“

      Justine trinkt einen warmen, pappsüßen Tee, plaudert mit der Dame und hat gar nicht genug Hände frei, um alle Tiere gleichzeitig zu streicheln.

      Nach gut einer Stunde laden sie die beiden Kisten vom Anhänger und als Justine sich gerade wieder aufs Rad schwingen will, entdeckt sie ganz hinten im Hof einen Zwinger, in dem ein großer Hund steht und sie ansieht. Justine hält inne.

      Sie ist ganz berührt von diesem ruhigen Blick.

      „Ja, wer bist du denn?“ spricht Justine den Hund auf Entfernung an und macht einige Schritte auf ihn zu.

      „Nicht, bleiben Sie zurück. Er fängt gleich furchtbar an zu bellen.“, bremst die Frau sie aus. Jus bleibt stehen.

      „Was ist mit ihm?“ fragt sie verunsichert.

      „Das ist Leonardo da Vinci, kurz Leo. Unser Sorgenkind.“

      „Moment… sagten Sie eben… L-e-o?“

      „Ja, sein Rufname ist Leo. Warum?“

      In diesem Moment fuhr ein Schauer über Justines Rücken. Es ist gekommen, wie Tante Valerie gesagt hat. Ihr Begleiter ist bereits ausgewählt, sie muss ihn nur noch erkennen. Ist es wirklich dieser Hund hier? Ich hätte mir einen ganz anderen Hund ausgesucht. Es arbeitet gewaltig in Justines Kopf.

      „Bitte, ich möchte ihn gerne sehen.“

      „Na gut.“, gibt die Dame nach und ruft die anderen Hunde ins Haus. Nachdem die Tür geschlossen ist, nimmt sie eine schwere Lederleine und geht mit Justine in Richtung Zwinger.

      „Komisch, sonst schlägt er immer an.“, stellt die Frau fest, als die beiden direkt vorm Zwinger stehen. Als die Dame das Tor öffnen will, um den Hund anzuleinen, sagt Justine: „Moment noch…“

      Sie geht in die Hocke und zieht einen ihrer Handschuhe aus. Die Finger umgreifen das eiskalte Gitter des Zwingers und Leo macht zwei Schritte auf Justine zu. Er schnuppert vorsichtig an ihrer Hand. Dann schauen sich beide in die Augen. Er hat so eine große Ähnlichkeit mit Leopold Phobos, das ist unglaublich. Der Hund ist aschfahl, mit ruhigen, grau-braunen Augen. Dazu von imposanter Größe und schlanker Statur. Wer hat mir dich nun geschickt, war es Tante Vally oder Leopold selbst?

      „Wie alt ist er?

      „Das weiß man nicht so genau. Etwa vier Jahre?“