»Schau Angie, ich krieg es nicht hin, mich bei meinen Eltern zu outen«, fiel ich mit der Tür ins Haus und schluckte den Kloß im Hals herunter. Ich traute mich nicht, ihr in die Augen zu schauen, wollte nicht wissen, ob sie bestürzt, traurig oder gar wütend war. »Ich habe es versucht, ich würde es ja tun, aber … du kennst meine Eltern nicht. Sie würden mich verabscheuen, verstehst du?«
Angie zog mich etwas näher. »Aber schau, Babe … meine Eltern waren auch nicht von Anfang an erfreut. Doch sie haben sich daran gewöhnt, und jetzt unterstützen sie mich.«
Ich gab mir Mühe, nicht wütend zu werden. »Das ist nicht dasselbe. Deine Eltern sind ein anderes Level von kein Verständnis, Schatz.«
»Bist du dir da sicher?« Sie schien die Frage ernst zu meinen.
»Ja, ich bin mir zu hundert Prozent sicher!« Meine Stimme begann zu zittern. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte gehofft, dass sie mich wenigstens ein bisschen trösten würde, und nicht meine Erklärung hinterfragte. Traute sie mir denn nicht? Traute sie mir nicht zu, dass ich meine Eltern kannte und ihr die Wahrheit über sie sagte? Dachte sie, ich fände es toll, eine Beziehung im Versteck zu führen? Es war bloß so, dass mir keine andere Wahl blieb! Vielleicht war ich wieder einmal zu emotional, aber ich konnte es nicht verhindern.
»Ich würde es ja wirklich tun, glaub mir, bitte …« Ich brach ab, schluckte erneut Tränen hinunter. Zwar hatte Angie immer noch den Arm um mich gelegt, doch ich spürte ihre Berührung kaum, so sehr fraß mich der Schmerz von innen auf und verdrängte jedes andere Gefühl.
Angie seufzte nun, beugte sich vor und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Hm, Babe …«, murmelte sie.
Ich schaute sie von der Seite her an. Konnte sie mir nicht sagen, dass alles irgendwie gut werden würde? Dass sie mich auch liebte, wenn sie meine Eltern nie kennenlernen würde? Dass das alles keine Rolle spielte? Obwohl ich eine andere Reaktion von ihr erhofft hatte, hatte ich gewusst, dass es ungefähr so kommen würde. Es war nicht das erste Mal, dass wir über das Thema sprachen – und Angie änderte selten ihre Meinung. Aber dennoch verletzte mich ihr Verhalten.
»Schau Angie, ich kann dir nicht versprechen, dass ich mich in absehbarer Zeit outen kann«, sagte ich ihr, nun war meine Stimme fester. Ich hatte zuvor beschlossen, dass ich es ihr geradeheraus sagen würde. Ich konnte nicht stets behaupten, dass ich es »bald« tun würde. Ich konnte weder ihr noch mir vormachen, dass es möglich sein würde, mich in nächster Zeit bei meinen Eltern zu outen. Denn das wäre einfach gelogen. Und wenn ihr das nicht genug war … dann wusste ich auch nicht weiter. »Ich weiß, dass du nicht gerne versteckt lebst, dass du gerne auch zu mir nach Hause kommen würdest. Okay, ich verstehe das, du bist schon out und alles. Aber ich kann dir das so nicht geben. Und entweder verstehst du das … oder …« Meine Stimme versagte. Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper, bald würde ich nicht mehr verhindern können zu weinen.
Angie zog mich wieder etwas an sich und fuhr sich einige Male mit der Hand übers Gesicht. Der Blick, den sie mir zuwarf, wirkte gequält. »Babe, ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann … Ich fühle mich eingeengt dadurch, als wäre ich selbst wieder im closet.«
Ich biss mir auf die Lippen und mir entfuhr ein Schluchzer. Im Gegensatz zu ihr wusste ich aber, dass ich das nicht konnte. Ich würde ihren Anforderungen nie entsprechen können. Tränen liefen mir wie Sturzbäche über die Wangen und meine nächsten Worte wurden beinahe von meinen Schluchzern erstickt.
Kapitel 1 – Babysitting
Ein Kind ließ einem wirklich keine Privatsphäre.
Ich war gerade mal zwei Minuten lang mit meinem Freund am Telefon gewesen, als mir meine kleine Schwester wieder am Arm zerrte. Ich unterbrach meinen Satz und schaute zu Mia hinunter. Sie stand wartend vor mir, ihre Augen voller Elan. Echt bewundernswert, welche Energie vierjährige Kinder aufbrachten. Ich fühlte mich mit meinen achtzehn Jahren schon alt neben ihr.
»Moment, Schatz«, sagte ich und meinte damit sowohl meinen Freund als auch meine Schwester. Ich legte einen Arm um Mia und sagte rasch in mein Handy: »Okay, Nate, tut mir leid, ich muss auflegen. Mia ruft. Meldest du dich heute Abend nochmals?«
»Okay, ich ruf dich später wieder an«, versprach Nate verständnisvoll. »Ich liebe dich. Bis dann.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte ich noch, dann legte ich auf und verstaute das Handy in der Hosentasche. »Okay Mia, was ist denn?« Nun widmete ich mich wieder voll und ganz meiner Schwester. Es war ja nicht so, dass ich sie vernachlässigte oder eine dieser Schwestern war, die ständig mit dem iPhone neben dem gelangweilten Kind herumlief. Aber Nate war soeben in die Ferien gereist und hatte mir mitteilen wollen, dass er gut angekommen war. Dennoch, Mia benötigte wieder meine vollständige Aufmerksamkeit.
Wir waren an einem Spielplatz im örtlichen Park angelangt, wo ich mit ihr den Nachmittag verbringen wollte. Wie jeden Montag um zwei Uhr nachmittags hatte ich Mia vom Tagesheim abgeholt. Doch im Unterschied zu gewöhnlichen Montagen hatte ich diese Woche die volle Verantwortung für meine kleine Halbschwester, da meine Eltern – beziehungsweise meine Mutter und ihr Mann – in den Flitterwochen waren. Also hatte ich mich bereit erklärt, auf meine Schwester aufzupassen. Doch ich liebte Mia über alles, solange sie nicht erwartete, dass ich dieselbe unerschöpfliche Energie besaß wie sie. Daher hatte ich meiner Mutter gerne angeboten, auf die Kleine aufzupassen. Ich fand, Flitterwochen gehörten zu jeder Hochzeit und die beiden sollten sich mal eine Auszeit gönnen. Diese Woche hatte ich Glück, da zurzeit Sommerferien waren. Einerseits hatte ich selbst genug Zeit und andererseits war der Spielplatz nicht so hoffnungslos überfüllt wie an anderen Tagen – viele Kinder waren wohl in den Urlaub gefahren.
»Möchtest du auf die Rutsche?«, fragte ich die Kleine. Noch hatte ich Energie, es war erst Mittag.
Mia nickte mit wild hüpfenden Haaren. Sie hatte blonde Löckchen, die wahrscheinlich in den nächsten Jahren glatter werden würden. Auch ich hatte als Kind Locken gehabt – jetzt waren meine Haare eher glatt, zu meinem Stolz aber immer noch natürlich blond. »Jaaa, du musst mich aber auffangen!«, verlangte sie.
Ich willigte ein und wir rannten zu der Rutschbahn. Der Spielplatz war weitläufig und hatte alle möglichen Arten von Spieleinrichtungen, von den Klassikern wie Rutschbahn und Schaukel bis hin zu speziellen Klettervorrichtungen, deren Namen ich nicht kannte. Nun half ich meiner Schwester auf die Rutschbahn und wartete unten, bis sie ankam und sich in meine Arme warf. »Huch«, machte ich spaßeshalber. »Hast aber Glück, dass ich hier stehe, hm?«
Mia giggelte nur. Sie wusste genau, dass es kein Glück war. Wir wiederholten das Ganze mindestens zehn Mal, ohne dass es Mia langweilig wurde. Und ich hatte meinerseits Freude an ihrer Freude. Die Sonne schien angenehm warm, ein perfekter Tag, um draußen zu sein, fand ich. Ich liebte es, bei schönem Wetter in der Natur zu sein, selbst wenn es nur ein Park war. Neben uns war eine Großfamilie und weiter hinten sah ich eine modisch gekleidete Jugendliche mit einem kleinen Kind. Es war eher ungewöhnlich, hier junge Leute zu treffen, und mein Blick schweifte erneut zu der Frau. Ich fragte mich regelmäßig, wo all die Babysitter und Jugendmütter hingingen - bei dem Spielplatz hier hielten sie sich jedenfalls kaum auf. Außer ebendiese junge Frau weiter hinten.
Mia wollte im Nachhinein auf die Schaukel und wir wechselten dorthin. Doch auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete mit dem Finger vor sich. »Oh, schau mal, ein Ball!«
Ich runzelte die Stirn und folgte ihrem Finger. Da war die modische Frau mit einem brünetten Kind etwa in Mias Alter, mit einem aufgeblasenen Ball spielend. »Ja, sie spielen Ball.«
»Kann ich auch?«, fragte Mia und schaute mich mit großen Augen an.
Ich lächelte. »Mia, der Ball gehört dem anderen Mädchen. Wir können ihn nicht einfach nehmen.«
Mia zog eine Schnute. »Wieso können wir nicht mitspielen?«
Ich schaute