Zukunft?. Mary Specter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mary Specter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752910193
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aber Armut und Hunger haben ihre Spuren hinterlassen. Sie sieht mindestens fünfzehn Jahre älter aus.

      „He, Lisa, schon wieder am Schimpfen?“

      Der Mann, der seinen Stoffbeutel absetzt, heißt Willi. Um seine wachen gletscherblauen Augen bilden sich beim Lachen kleine Fältchen.

      Sein immer noch markantes Gesicht strahlt Stärke und Gutmütigkeit aus.

      „Ach Mensch Willi, du hast gut lachen. Immerhin hast du wenigstens ein Dach über dem Kopf!“

      Willi zieht die Augenbrauen zusammen und setzt sich neben Lisa auf die Matratze. Er zieht ihr schmunzelnd die verrutschte selbst gestrickte Mütze zurecht: „Du hast Recht! Der Erhardt und ich, wir haben das Maximum aus der alten Ruine rausgeholt. Aber 60 Euro Miete sind kein Pappenstiel! Ich werde wohl auch bald hier sitzen. Wie du weißt, werde ich im nächsten Jahr fünfundsiebzig und dann ist Schluss mit dem Zuschuss.“

      Nachdenklich faltet Willi seine Hände im Schoß. Seine schönen Augen blicken traurig. „Ich habe darüber nachgedacht, dem ganzen vielleicht doch ein Ende zu bereiten.“

      Lisa springt auf: „Bist du verrückt, was sollen wir denn ohne dich machen?! Du und Erhardt, ihr seid doch die Einzigen, auf die man sich noch verlassen kann, vor allem auf die man hört. Die Stadt würde völlig im Chaos versinken ohne euch!“

      Ihr Tonfall wird weinerlich. Sie holt tief Luft und setzt sich wieder. „Der sanfte Tod wäre reiner Egoismus mein Lieber!“

      „Bist du fertig mit deiner Standpauke?“ Lisa schiebt die Unterlippe vor.

      „Für den Moment bin ich fertig!“

      Beim Lachen entblößt sie ein wahres Verhau an Zähnen. „Was hast du denn Schönes mitgebracht, mein Guter?“

      Willi kramt in dem gelben Stoffbeutel herum.

      „Wir haben bei Strobels etwas Mehl und Margarine ergattern können und wie du weißt, halten wir fünf Hühner. Glaub mir, altes Mädchen, das ist der beste Kuchen, den du in den letzten zwanzig Jahren gegessen hast!“ Er holt einen kleinen, wie einen Laib Brot aussehenden Kuchen hervor und reicht ihn der Frau. Lisa beißt hinein und schließt genüsslich schmatzend die Augen. „Oh, wie gut der ist! Noch eine Tasse Kaffee dazu der Himmel wäre das!“

      Willi nickt und gießt aus einer verbeulten Thermoskanne heißen Kamillenblütentee in einen Becher.

      Lisa lacht mit vollem Mund und klopft Willi auf die Schulter: „Danke mein Freund, dann eben fast wie im Himmel!“

      „Ich muss weiter, noch ein paar Mäuler stopfen. Außerdem habe ich für Klara einen Schal aufgetrieben. Sie hat Halsschmerzen seit ein paar Tagen.“

      Willi steht auf und geht zügig die Straße hinab.

      Lisa beißt ein Stück vom Kuchen ab und schaut ihm kopfschüttelnd hinterher.

      Im Kristallsaal der „GOLDENEN LIGA“

      Im Kristallsaal der "Goldenen Liga" haben sich ungefähr achtzig Menschen versammelt. Der Name des Saales ist durchaus berechtigt. Man kommt sich vor wie in einer Tropfsteinhöhle. Gedrehte gläserne Säulen in der Form eines DNA-Stranges ragen als Eckpfeiler bis zur verspiegelten Decke. Der Boden scheint aus glattgewalzten Eiszapfen zu bestehen. Zur Krönung sind alle Möbel, auch die bis zum Boden reichenden Gardinen, schneeweiß.

      Das Raunen im Saal verstummt augenblicklich, als hinter dem Rednerpult eine schlanke dunkelhaarige Frau im hellgrauen Kostüm auftaucht. Nele Kurfürst, Mitte Fünfzig, gutaussehend. Das halblange schwarze Haar glänzt wie ihre dunklen Augen.

      „Ich bitte um Ruhe, meine Damen und Herren! Wie Sie alle wissen, steht der Kontencheck nächste Woche ins Haus. Wer also ausreichend solvent ist, das betrifft in erster Linie die Damen, kann sich nach Weihnachten für die erste Versuchsreihe melden.“

      Die schöne Frau streicht eine vorwitzige Locke aus ihrem Gesicht. „Der Vorstand und ich sind der Meinung: Wir können das Experiment wagen!“

      Ein kurzer Jubel erfüllt den Saal.

      Nele Kurfürst strafft ihre Gestalt, ihr Blick wird ernst. „Jedem sollte klar sein, egal wie das Ergebnis ausfällt, dass die LIGA keinerlei Haftung übernimmt.“

      Sie räuspert sich. „Leider gibt es eine nicht ganz so erfreuliche Nachricht: Es wird notwendig sein, einige von Ihnen in das neugebaute Lager außerhalb des Zwinger-Geländes umzusiedeln.“

      Sofort werden die ersten empörten Stimmen laut. Nele hebt beschwichtigend die Hände: „Wir haben es geschafft, eine durchaus adäquate Bleibe für alle Betroffenen zu finden. Sicher haben sich schon einige gewundert, was für ein Neubau angrenzend entsteht. Dieser Block beinhaltet alle Annehmlichkeiten, die Sie von hier gewohnt sind: Hübsche Zweiraumwohnungen mit Balkon, ein Schwimmbad auf dem Dach und ein gemeinschaftlicher großer Wintergarten.“

      Ein hagerer Mann mit Glatze steht auf: „Das ist eine Zumutung! Wir sollen unsere Appartements aufgeben und in kleinere ziehen!? Was wird mit unseren Sachen? Wie sieht es mit der Miete und den anderen Vergünstigungen aus? Was wird zum Beispiel mit der an die LIGA gebundenen medizinischen Betreuung?“

      Nele nickt kurz. „Studio und Kino können Sie natürlich weiter kostenlos nutzen.

      Allerdings müssen die Kosten für Medizin und ärztliche Behandlung ausschließlich von Ihnen selbst getragen werden.“

      Immer mehr aufgebrachte Menschen schreien nun durcheinander. Nele ist gezwungen ebenfalls zu schreien: „Die Gesundheit sollte jedem von uns mehr wert sein, als Schönheit und Luxus!“

      „Das sagt genau die Richtige!“, kommt es wütend zurück.

      Die Menge ist inzwischen so aufgewühlt, dass zwei stämmige Leibwächter, die neben Nele stehen, diese jetzt hinter die Bühne zum Ausgang bringen müssen.

      Die Sorge der gutbetuchten Bewohner der „GOLDENEN LIGA“ sind nur Bagatellen gegenüber den Problemen, mit denen sich die Bevölkerung außerhalb des Sperrgebietes herumschlagen muss.

      Es ist November

      Es ist November und die Nächte sind bereits grimmig kalt.

      Überall in den Straßen brennen kleine Feuer. Was den Flammen nicht zum Opfer fällt, wird genutzt, um sich vor der Kälte zu schützen. Gardinen hängen wie Zeugen besserer Zeiten an blinden Fensterscheiben.

      Zerknülltes Papier in Schuhe und Jacken gestopft, hält warm. Willi und Erhardt haben sich mit Lebensmitteln eingedeckt, die Matratzen mit ordentlich geflickten Bettlaken überzogen. Es gibt Decken und einen kleinen Ofen, der dem Raum wohlige Wärme spendet. Willi stellt einen Topf auf den Campingkocher. Er öffnet eine Dose mit dicken Bohnen. Während er mit einem langen Löffel die Bohnen umrührt, schweift sein Blick zum Fenster. Es stürmt und regnet in Strömen. Ein grauer Novembertag.

      Erhardt beobachtet den Freund: „Was grübelst du schon wieder, alter Junge?“ Willi blickt seinen Kumpel an: „Ich habe jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn es Winter wird, weißt du! Wir haben es warm und wir haben genug zu essen. Aber sieh raus! Wie viele müssen in dieser Kälte ausharren, ohne Hoffnung, dass es jemals besser wird!“

      Die Männer schweigen und sehen hinaus in den Regen.

      Die Bohnen sind fertig und Erhardt holt zwei tiefe Teller aus dem selbst gezimmerten Schrank. Sie essen schweigend aus dampfenden Schüsseln.

      Ein zaghaftes Klopfen reißt Willi aus seinen Gedanken. Er erhebt sich und geht zur Tür. Vor der Tür steht Lisa, in Begleitung eines erstaunlich schönen, jungen Mannes. Das mittelblonde Haar ist akkurat geschnitten. Stahlblaue Augen blicken aus einem markanten Gesicht prüfend auf die alten Männer. Er scheint zu frieren.

      „Bitte, kommt herein!“

      Willi tritt zur Seite, um Lisa und den Fremden vorbeizulassen.

      „Mensch,