Erhebliche Schwierigkeiten hatten die russischen Gesandten bei der Verbreitung des Manifests und der Ausübung ihrer Tätigkeit als Werber in Spanien, welches aufgrund der hohen Anzahl an Übersiedlern nach Amerika ebenfalls ein Ausreiseverbot erlassen hatte.
Noch weniger Erfolgschancen hatte die Werbekampagne, die sich um Übersiedler aus England und den Niederlanden bemühte. Die Bevölkerung dieser Länder war relativ wohlhabend, zudem besaßen die Länder eigene reiche Kolonien. England hatte seine Kolonien in Nordamerika, wohin ein Teil seiner Staatsangehörigen, die auf der Suche nach Abenteuern oder einem neuen und noch besseren Leben waren, übersiedeln konnte und wohin das Land auch selbst aktiv deutsche Kolonisten zu locken versuchte. Zudem hatte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts in England bereits die industrielle Revolution begonnen, und die Städte mit einer entwickelten Industrie, welche die überschüssige ländliche Bevölkerung aufzunehmen vermochte, wuchsen an – ganz anders in Deutschland, wo dieser Prozess erst Jahrzehnte später begann.
Aus diesen Gründen waren die Möglichkeiten Russlands, in England Kolonisten anzuwerben, äußerst gering. Pisarevskij geht in seinem Buch näher auf die Tätigkeit des russischen Botschafters A. P. Voronzov in London ein, dem es nur mit großer Mühe gelang, 200-300 Menschen anzuwerben. Sie erhielten Verpflegungsgeld, und dem Schiffskapitän wurde eine entsprechende Vorauszahlung für ihre Überfahrt nach Russland ausbezahlt. Ein großer Teil der Übersiedler trat die Überfahrt nicht an, da sie ein weiteres Mal von englischen Agenten für deren Kolonien in Amerika angeworben wurden. Das Schiff, auf dem die restlichen Übersiedler sich auf den Weg machten, geriet in einen heftigen Sturm und musste an der Küste der Niederlande anlegen. Beim
Warten auf ein Ende des Unwetters an Bord des Schiffes brach nach einem Trinkgelage ein Streit zwischen der Mannschaft und den Kolonisten aus, woraufhin diese an Land gingen. Zwar gelang es dem Kapitän, sie zur Fortsetzung der Schifffahrt zu überreden, doch das Schiff geriet erneut in einen Sturm und wurde schwer beschädigt. Daraufhin kam es unter den Kolonisten zu einer Meuterei, in deren Folge sie sich entschieden weigerten, die Reise auf dem Seeweg fortzusetzen. Letzten Endes gestattete man ihnen, ihren weiteren Weg selbst auszuwählen.
Größere Hoffnungen setzte man auf Frankreich, wo eine bedeutende Anzahl russischer Werber ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Allerdings wurde auch hier in den Jahren 1682 und 1685 die Flucht der Hugenotten verboten. Wer sie bei der Flucht unterstützte, wurde mit einer Strafe von 3.000 Livres belegt, und bei wiederholtem Vergehen wurde der Verbrecher eingesperrt. Schon bald wurden noch härtere Strafen eingeführt, durch die für Beihilfe oder Absicht zur Auswanderung die Todesstrafe drohte, während denjenigen, die ihren Verdacht einer Ausreise bestimmter Personen aus dem Land rechtzeitig mitteilten, die Hälfte des Vermögens des Emigranten versprochen wurde.16 Letzten Endes gelang es den russischen Werbern lediglich, 235 französische Familien hinter die Grenze zu schaffen. Eine weitere Ursache dieses Misserfolges bestand im entschiedenen Vorgehen des französischen Geheimdienstes, der die russischen Werber rasch und ohne große Worte festnahm und in der Bastille einsperrte.
Aus heutiger Sicht kann man nur bedauern, dass Deutschland damals aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Staates und entsprechender einheitlicher Dienstvorschriften und Gesetze nicht in der Lage war, seine eigene Bevölkerung zu schützen, welche in fremde Länder zerstreut wurde. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, welch tragisches Schicksal Generationen deutscher Kolonisten Hunderte von Jahren nach der Auswanderung ihrer Vorfahren erleiden mussten. Bedauerlicherweise kennt die Geschichte bekanntermaßen keinen Konjunktiv.
Kapitel 4.
Wesentliche Ursachen und Motive
der Massenemigration
Die wesentlichen Ursachen, die im 18. Jahrhundert Hunderttausende und im 19. Jahrhundert bereits Millionen Bewohner der voneinander getrennten deutschen Fürstentümer zur massenweisen Emigration veranlassten, werden in zahlreichen Publikationen zu diesem Thema genannt und mehrfach wiederholt, häufig ohne Angabe von Quellen. Heute ist es äußerst schwierig festzustellen, wer sie zuerst formuliert hat und wann dies geschah. Der hier vorliegenden Schilderung liegt die besonders weit verbreitete und logische Systematisierung der Emigrationsursachen zugrunde, die Karl Stumpp in seinem Buch „Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862“ anführt.1 Darin schlägt er völlig zurecht vor, die Ursachen, welche die einladenden Länder zum Anwerben und Ansiedeln von Kolonisten auf ihren Ländereien und die deutschen Kolonisten zum Verlassen ihrer Heimat und zur Suche ihres Glücks in fernen und fremden Gegenden veranlassten, müssten getrennt voneinander untersucht werden.
In den vorhergehenden Kapiteln wurden die wesentlichen Ziele, die Preußen, Österreich und Russland verfolgten, bereits dargestellt. Dabei setzten sie ihre Peuplierungspolitik und die von ihnen angewandten Annahmen und Methoden beim Anwerben deutscher Übersiedler in die Tat um. Wir kommen an späterer Stelle dieses Kapitels noch einmal auf dieses Thema zurück und versuchen, einige allgemeine und kennzeichnende Merkmale dieser Politik in den genannten Ländern zu formulieren. Den Anfang bildet die Darstellung der wesentlichen Motive und Ursachen der Massenemigration, die von Karl Stumpp in vier Gruppen zusammengefasst wurden: in politische, ökonomische, religiöse und persönliche Ursachen.
4.1. Politische Ursachen
Zu den politischen Emigrationsursachen müssen die zwangsweise Rekrutierung von Soldaten, die zahlreichen Abgaben und Steuern zu Kriegszeiten und die Raubzüge und Kontributionszahlungen gezählt werden, die Teil der schrecklichen Folgen der vielen Kriege waren, welche auf den Gebieten der voneinander getrennten deutschen Staaten und kleinen Fürstentümer gewütet hatten. Schon die alleinige Aufzählung aller Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts – der Dreißigjährige Krieg (1618-1648); der Holländische Krieg (1672-1679); der pfälzische Erbfolgekrieg (1688-1697); der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714); der Polnische Thronfolgekrieg (1733-1738). Im Anschluss daran: der Siebenjährige Krieg (1756-1763) und der damit eng verbundene Englisch-Französische Krieg um die Vorherrschaft in Nordamerika (1755-1762); die französische Besatzung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und nicht zuletzt die zwangsweise Teilnahme an den napoleonischen Feldzügen im Jahre 1806 gegen Preußen, 1807 gegen Österreich, 1812 gegen Russland und daraufhin 1812 gegen Preußen, Russland und Österreich – gibt dem Leser heute eine Vorstellung des extremen Elends, von dem die Bewohner der deutschen Ländereien heimgesucht wurden.
Nach dem Siebenjährigen Krieg, die zahlreichen negativen ökonomischen Folgen in Form überzogener Abgaben und Steuern hatte, kam es infolge abnehmender Ernteerträge zu einem Preisanstieg bei den Grundnahrungsmitteln. Die völlig unangemessenen Abgaben an die Herrscher, welche durch Raub an ihren Untergebenen ihren ausschweifenden Lebenswandel finanzierten, führten lediglich zu einer Verschärfung der nach dem Krieg entstandenen Depression der Bevölkerung. Weit bekannt ist etwa die auch in Stumpps Buch aufgeführte Tatsache, dass der hessische Landgraf Friedrich II. 17.000 seiner Staatsangehörigen an die englische Armee verkaufte, die sich mit den Franzosen um die Vorherrschaft in Nordamerika im Krieg befand. Wir sehen also, dass die Bevölkerung der deutschen Ländereien nicht nur unter den politischen Folgen der ausländischen Besatzung litt, sondern auch unter der Rechtlosigkeit, die mit den ungerechten Entscheidungen ihrer Herrscher in Zusammenhang stand. Daher ist es wenig verwunderlich, dass viele Bewohner der deutschen Ländereien, die unter den militärischen Konflikten der zahlreichen Kriege gelitten hatten, einen Ausweg aus dieser Lage in der Auswanderung sahen.
Zu den politischen Ursachen gehört auch die Auswanderung der Mennoniten aus Westpreußen, die begonnen hatte, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm II. 1787 die Privilegien der Mennoniten, die diesen von seinem Vorgänger Friedrich II. (dem Großen) gewährt wurden, trotz seiner Bestätigung dieser Privilegien dahingehend eingeschränkt hatte, dass diese keine neuen Grundstücke mehr kaufen konnten. Damit machte er den Erwerb neuer Höfe und Grundstücke für die zahlreichen Kinder der Mennoniten unmöglich. Diese waren größtenteils durchaus vermögend und hätten eine solche Möglichkeit wahrnehmen können. Die eingeführten Einschränkungen hinsichtlich einer Ausweitung der genutzten Ländereien