Selbst ihre Mutter hätte um ein Haar mit dem ganzen Hof für irgendeine Luftnummer gebürgt, wäre Sina nicht im letzten Moment dazwischengegangen. ‚Was Du ererbest von den Alten, bewahre, um es zu vermehren‘. Dieser Spruch, der noch von Großmutter stammte, zierte nicht umsonst schon seit Jahrzehnten die Dielentür und hatte sich ihr eingeprägt. Dabei hätte Sina es besser wissen müssen, zumal habsüchtige Menschen immer untreu waren. Warum sie sich nicht schon damals von ihm getrennt hatte, vermochte sie bis heute nicht zu sagen. Aber irgendetwas musste er gehabt haben und sei es nur das unglaubliche Talent, seine Fehler als Vorteile zu verkaufen.
Seitdem scheute sie jeden männlichen Kontakt, wobei Volker die rühmliche Ausnahme blieb. Trotz seiner komischen Art verstand er es, sie mit belanglosen Scherzen aufzumuntern. Zwar musste sie ihm bisweilen gewisse Grenzen aufzeigen, doch das akzeptierte er stets widerspruchslos und nahm es auch nicht krumm. Glücklicherweise verschaffte ihr der kleine Nebenerwerb etwas Ablenkung. Dabei handelte es sich um ein durchaus lukratives Zubrot in Form der Restauration von Aussortierten, Abgesplitterten und Entliebten – kurzum entsorgter Gartenzwerge als Symbol romantischer Beschaulichkeit.
Sina nahm ein abgeblättertes Exponat aus dem Anhänger und betrachtete es explizit. Mittlerweile hatte sie sich getraut, auf den Kunsthandwerkermärkten ihre Schätze auszustellen. Verbissen hatte sie seitdem den Markt beobachtet, analysiert, recherchiert und fachkundige Menschen aus der Branche des Handels kontaktiert. Nachdem sie das Erfolgskonzept des Norderstedter Gebrauchtwarenkaufhauses Hempels gründlich studiert hatte, war sie fest davon überzeugt, dass ihre Vision von der Reanimation der ‚Alten Liebe‘ funktionierte. Der entscheidende Schritt in die Selbstständigkeit war vor ein paar Monaten durch eine Unterschrift in einem kahlen Verwaltungsbüro in der Kreisstadt gesetzt worden. Seither konnte sie tatsächlich eine kontinuierliche Umsatzsteigerung verbuchen.
Behutsam stellte sie die erste Figur auf die Werkbank, drehte die Zwingen des Schraubstockes auf und fixierte den ersten verwitterten Zipfelmützenträger. Sie streifte sich Einmalhandschuhe über und setzte Mundschutz und Schutzbrille auf. Wie immer begann sie die komplette Lieferung der in die Jahre gekommenen, zum Teil rissigen Figuren abzuschleifen und mit Wasserdruck zu säubern. Zum Trocknen bugsierte sie die Hohlkörper auf ausrangierte Baumwollbezüge. Dann nahm sie ihre Schutzkleidung wieder ab und entsorgte alles im Mülleimer.
Sina schaute auf die Uhr. Es war bereits weit nach eins. Hektisch stellte sie die letzten Arbeitsgeräte an ihren Platz, wusch sich die Hände und pfiff Boy herbei. An diesem Nachmittag war sie mit Tabea Blank verabredet, um eine Farbbestellung aus deren Töpferei in Westensee abzuholen. Ob es ein gutes Geschäft werden würde, musste sich erst zeigen. Vielleicht konnte sie ihr ja einige Tricks entlocken. Daher legte sie sich eine Strategie zurecht.
Sie kannte diese Frau nur vom Hörensagen. Angeblich war sie ein wenig seltsam und schon deshalb ein schwieriger Verhandlungspartner. Das tat aber ihrem Sachverstand für die nötigen Farbnuancen keinen Abbruch – eine Leidenschaft, die Frau Blank schon seit ihrer Kindheit fasziniert hatte und später zu einem lukrativen Geschäft entwickelte. Man behauptete sogar, sie könne Farben schmecken. Das war natürlich Unsinn und wurde nur zu Werbezwecken gestreut. Das schmälerte aber keineswegs ihr Talent.
Der Kontakt war über das Internet zustande gekommen, nachdem Sina auf vielversprechende Rezensionen gestoßen war. Demnach lag das Geheimnis des Erfolgs der Farben in der Qualität der Pigmentmischungen. Davon erhoffte sie sich nach der Restauration eine höhere Wetterbeständigkeit, was bessere Absatzzahlen versprach. Schon deshalb war eine Beratung vor Ort nötig.
Aber nun drängte die Zeit. Die Figuren mussten zügig bemalt und gebrannt werden. In drei Wochen begann die Auftaktveranstaltung im Süden des Landes. Sina schlang ihre Stulle hinunter, stürzte ein Glas Milch hinterher und griff eilig zum Autoschlüssel. Gleichzeitig trieb sie Boy zur Eile an. Bis zur Töpferstube südlich des Kanals benötigte sie mindestens eine Stunde. Während der dunkelgrüne Range Rover vom Hof rollte und Boy gesichert in seiner Transportbox saß, gab sie die Zieladresse ein.
Der Tag war feuchtkühl. Hochnebel hing in der Luft. Da sich das Wetter jetzt beruhigt hatte, die Zeit aber rannte, drückte Sina aufs Tempo. Pfeilschnell schoss der Wagen über die Piste …
Landwirtschaft 4.0
„Verdammte Schwarzkittel!“ Fluchend starrte Peter Reimers auf den Flurschaden im Maisfeld. Vom Trecker aus überwachte er die Ländereien in Kronsfelde. Er schaute grimmig aufs Jagdgewehr, das seitlich neben seinem rechten Knie stand. Ruckartig stellte Arko die Ohren auf und bellte. Mit geschwollener Brust betrachtete der Bauer seinen Hund in der Kabine der Zugmaschine. „Feiner Kerl“, murmelte er. Was für eine gute Idee von seiner Helga, ihm den Vorstehhund zum zwanzigsten Hochzeitstag zu schenken. Hin und wieder kam ihr auch mal ein Lichtblick, wenn auch nur selten. Aber dafür hatte sie ja ihn. Und wenn man bedachte, dass er es mit ihr nun schon so lange ausgehalten und nur ganze zweimal an Trennung gedacht hatte, war das schon eine Leistung.
„Na, was ist denn los, mein Großer“, sagte er und strich dem Jagdhund über den braunweißen Kopf. Aber dieser ließ sich nicht ablenken. Mit typisch vorgestrecktem Leib und angewinkelter Pfote visierte der Hund den Horizont an. Irgendetwas witterte das Tier, bloß was? Genervt versuchte der Landwirt, dessen Ziel auszumachen, was ihm allerdings nicht gelang. Am Himmel zog eine Gruppe Schleierwolken vorbei. Peters Sehkraft begann in letzter Zeit etwas zu schwächeln. Normalerweise trug er eine Brille, verzichtete aber aus Eitelkeit darauf. Lieber rieb er sich einmal mehr die brennenden Augen, selbst wenn diese schon karnickelhaft gerötet waren.
Vom Äußeren her war er ein Mann aus echtem Schrot und Korn, der mit seinem Gardemaß von strammen 190 cm und guten 120 Kilo Lebendgewicht schon als hünenhaft galt. Und obwohl er die Fünfzig bereits überschritten hatte, wirkte sein Gesicht ungewöhnlich weich. Und wären nicht die grauen Schläfen und die Kniescheibe am Hinterkopf, würde man ihn tatsächlich zehn Jahre jünger schätzen.
Allerdings ließen ihn seine bisweilen erstaunliche Sensibilität und Rührseligkeit beinahe mimosenhaft wirken, was mit seiner wuchtigen Erscheinung absolut nicht harmonierte. Man wird es kaum glauben, aber dieser grobschlächtige Kerl gebärdete sich manchmal wie ein Kind. Ging mal etwas nicht nach seinem Willen, kam er schnell ins Jammern, selbst bei nichtigsten Anlässen. Folglich war er oft launisch und nur schwer zu ertragen. Das machte ihn nicht unbedingt beliebt. Aber darauf pfiff er, wie auf jede Kritik.
Jetzt widmete er sich wieder der Saatmaschine und dem 255 PS starken John Deere, sein ganzer Stolz. Da konnten Leute wie Jarmers oder Birger mit ihren vorsintflutlichen Krücken nicht mithalten. Die Welt war schon ungerecht, schoss es ihm angesichts ihrer dummen Gesichter durch den Kopf, als er sie vor einigen Monaten mit diesem neuen Gefährt schockiert hatte. Dabei war das keineswegs beabsichtigt, sondern eher beiläufig geschehen. Erwartungsgemäß stellten sie auch keine Fragen, so dass Peter von sich heraus erzählen musste, natürlich nur beiläufig und im Ton eines gewissen Verständnisses. Zur Finanzierung hingegen machte er keine Angaben. Von wegen Reimers schneidet nur auf und kriegt nichts auf die Reihe! Das sollten sie erst mal nachmachen.
Aber es gab Wichtigeres. Erst letzte Nacht weckte ihn sein Smartphone. Es war gegen drei Uhr, als er schlaftrunken nachguckte, ob irgendetwas im Geflügelstall nicht stimmte. War die Temperatur abgefallen? Oder streikte die Lüftung wieder einmal? Völlig relaxt hatte er daraufhin den Computer neu gestartet und alles war wieder paletti. Von solchem Luxus konnten diese beiden Pappnasen nur träumen. Aber er wollte sie damit nicht auch noch quälen. Schließlich hatte der Bauer ganz andere Probleme.
Sein Schnuckelchen Helga zeigte sich in letzter Zeit etwas unlustig, obgleich er ihr erst jüngst ein paar neckische Dessous geschenkt hatte. Auch wenn das freilich nur Fassade war, weil es nun mal dazu gehörte, hätte man doch wenigstens etwas Dankbarkeit erwarten