„Warum sollte ich?“
„Weil Sie jetzt denken, ich habe nicht alle Tassen im Schrank! Das denkt nämlich jeder, sobald ich davon anfange! Aber ich sage Ihnen, es gibt sie! Sogar in diesem Raum!“ Sie schaute sich ängstlich um.
„Wen meinen Sie mit ‚sie‘?“, wagte Sina nachzufragen.
„Wenn Sie das erst fragen müssen, haben Sie es nicht begriffen.“
Sina zog ratlos die Augenbrauen bis zum Nonplusultra, denn sie hatte in der Tat kein Wort verstanden. Ohne dieses Rätsel zu lösen, wurde Frau Blank mit einem Male überaus geschäftig.
Sogleich begab sie sich zu einem linksseitig an der Wand befindlichen Regal, setzte ihre Brille auf und begann es zu durchwühlen. Nachdem sie eine Mappe herausgezogen hatte und darin zu blättern begann, kramte sie schließlich Sinas E-Mail-Anfrage hervor. Rasch vergewisserte sie sich noch einmal ihres Anliegens und kam erstaunlich schnell zur Sache. „Frau Brodersen aus Ahlefeldt also. Interessant. Sie wohnen tatsächlich dort alleine auf dem Hof?“
„Woher wissen Sie das?“ Sina war erstaunt und erschrocken zugleich.
Die Hausherrin zog die Brille auf die Nasenspitze und sah sie über den Brillenrand durchdringend an. „Sie sind doch die Tochter von Lore Brodersen, nicht wahr? Und von ihrem Mann, dem Kurt ‚Kinderschreck‘, wie man ihn damals nannte, oder?“
Augenblicklich verspürte Sina einen Stich im Herzen. Diese Frau kannte ihre Eltern? Damit war nun wirklich nicht zu rechnen.
„Jetzt staunen Sie, nicht wahr!“ Frau Blank grinste zufrieden. „Ich hatte sofort so ein komisches Gefühl, als ich Ihre Mail bekam und den Namen las. Dann überlegte ich, ob das wohl die kleine Sina mit den weißen Kniestrümpfen und den kurzen Faltenröcken von einst war. Jaja, jetzt gucken Sie! Haha, habe ich Sie ertappt. Sie werden sich kaum daran erinnern, aber wir sind einander schon einmal begegnet. Damals waren Sie allerdings noch ganz klein und ihr Papa spielte mit Ihnen auf seinem Schoß ‚Hoppe, hoppe Reiter‘. Ich kannte ihre Mutter ganz gut, Gott hab sie selig, und nun ja, wenn es nicht zu vermessen klänge, ich weiß daher auch einiges über Sie.“
„Wirklich?“ Augenblicklich wurde Sina ganz schlecht. Am liebsten wäre sie jetzt hinausgerannt. „Ich denke, das gehört jetzt nicht hierher!“, blockte sie dieses Thema ab. „Sie wissen nun ja, weshalb ich komme, und daher sollten wir besser darüber reden. Es ist mir nämlich sehr wichtig.“
„Ich verstehe. Man will ja auch an manches nicht erinnert werden, nicht wahr?“, stichelte die Töpferin weiter und vergrößerte damit Sinas Unbehagen bis zur Unerträglichkeit.
„Tut mir leid, aber was meinen Sie?“, kehrte sie jetzt ungewollt zu diesem Thema zurück. Und wieder klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
„Ach, so dies und das, was damals alle wussten, oder besser, zu wissen glaubten. Das ist ja immer ein Unterschied und es ist einfach furchtbar, diese ständigen Tratschereien auf dem Lande. Darum interessiert es mich zum Beispiel auch gar nicht, was man über mich erzählt … Und nun geben Sie schon her. Was haben Sie da?“, brach sie plötzlich ab und schob ihre Brille wieder auf den Nasenrücken.
Sina setzte Boy auf den Boden, der sogleich herumzuschnüffeln begann. Dann nahm sie die Tasche auf und breitete vor ihrer Gastgeberin auf dem Tisch einige Stücke der mitgebrachten Kollektion aus, überwiegend putzige Wichtelmänner aus Keramik und Ton. Voller Spannung erwartete Sina ihre Einschätzung.
„Nun ja, die Farben, Nuancen und Schattierungen sind schon recht bemerkenswert nach der Restauration. Durchaus solide Arbeiten. Haben Sie noch mehr davon?“, fragte die Expertin nach einem kurzen, kritischen Blick.
„Habe ich. Aber ich dachte mir, ich zeige Ihnen erst einmal die, welche mir am bemerkenswertesten erscheinen.“
„Papperlapapp! Das ist typisches Anfängergeschwätz!“, blaffte die Töpferin plötzlich völlig unerwartet los. „Die wirklich guten Stücke sind meist die am wenigsten Bemerkenswerten. Das ist ja das Verflixte! Weniger die Farben als der Ausdruck ist an ihnen entscheidend. Verstehen Sie, der Ausdruck! Allein darauf kommt es an! Nehmen wir doch mal den hier!“ Sie nahm jetzt einen von den kleineren Wichtelmännern, dessen Farbe schon arg verblichen war und nur noch einen Ansatz von seinem einstigen Aussehen verriet. „Für einen Laien erscheint er auf den ersten Blick völlig wertlos, und man würde ihn jederzeit ohne mit der Wimper zu zucken entsorgen. Aber jetzt sehen Sie sich ihn mal etwas genauer an.“
Sie hielt ihn Sina unter die Nase wie einem dummen Kind, das nichts versteht und nichts begreift. „Und was sehen Sie? Sein Gesicht! Fällt Ihnen nichts auf? Es wirkt traurig. Im Gegensatz zu den anderen hat diese Figur eine Physiognomie und eine solche bedingt eine Seele. Wer käme schon auf die Idee, einen leidenden Zwerg darzustellen, wenn nicht mit einer ganz bestimmten Absicht? Sie werden sich jetzt sicher fragen, was das soll, denn da achtet doch ohnehin keiner drauf. Weit gefehlt, kann ich da nur sagen, weit gefehlt, Frau Brodersen. Die Gestalt eines Zwerges steht synonym für unser Leid und nicht für unsere Freuden. Ja, Sie hören richtig, für unser Leid. Das ist auch der tiefere Grund für die Neigung der Menschen, ihre Umwelt auf diese Weise zu verkünsteln. Nur im Zwerg, niemals im Riesen, versinnbildlicht sich unsere Nichtigkeit in Vollendung. Nur so wird sie in dieser Adaption als Figur der Heiterkeit als genaues Gegenteil wahrgenommen, was wiederum unseren Sieg über den Weltenschmerz symbolisiert. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“
„Oje. Nein, ich …“, räumte Sina sichtlich verwirrt ein.
„Das sollten Sie aber, denn nur so können Sie die künstlerisch wertvollen Exemplare erkennen! Halten Sie mich eigentlich für verrückt?“, fragte sie jetzt erstaunlich direkt und schien sich darüber auch noch zu amüsieren. „Ich frage das nur, weil das jetzt normal wäre, denn Sie haben garantiert kein Wort von dem, was ich sagte, verstanden.“
„Habe ich auch nicht“, gab Sina unumwunden zu, „muss ich das denn? Sie sind doch die Expertin, nicht ich!“
Frau Blank stutzte für einen Moment, klatschte spontan in die Hände und rief voller Begeisterung aus. „Oha, das ist gut! Das muss ich mir merken! Sie gefallen mir, wirklich! … Sind Sie schon lange im Geschäft, Frau Brodersen, oder darf ich Sina sagen?“, begann sie jetzt mit einem seltsamen Lächeln vertraulich zu werden.
„Aber bitte sehr … Wenn ich ganz ehrlich sein soll, bin ich noch nicht sehr lange im Geschäft. Genauer genommen habe ich überhaupt keine Ahnung. Darum bin ich ja hier. Und wenn ich ehrlich bin, erhoffe ich mir durch diesen Besuch so einiges“, setzte Sina hastig hinzu.
„Ach, so ist das.“ Tabea lachte und betrachtete ihren Gast schlitzohrig von der Seite. „Du willst dir Tricks abluchsen, um mir Konkurrenz zu machen? Nur zu! Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Ich stehe dir mit Rat und Tat gerne zur Verfügung. Nur eines bitte ich mir aus – lache niemals über mich!“
„Natürlich nicht!“ Sina schaute irritiert.
„Und nun zeig mal her, was du noch so hast!“, forderte Frau Blank und begann sogleich, noch weitere Stücke zu inspizieren. Dabei ließ die Art, wie sie es tat, ein wirkliches Interesse, man kann schon sagen ‚Gespür‘ erkennen, das nur einer tiefen Leidenschaft entspringen konnte, selbst wenn das einem Außenstehenden reichlich komisch anmutete. So hielt sie jedes Stück gegen das Licht, drehte und klopfte es ab und hielt es sich danach lange ans Ohr. Hinzu kamen ihre durchaus fundiert sachkundigen Bemerkungen, auch wenn diese zuweilen etwas schwülstig und hochtrabend den Eindruck einer gewissen Überspanntheit vermittelten.
Es bestand kein Zweifel, dass diese Frau nicht ganz bei Trost war. Doch wen interessierte das, solange sie Erfolg hatte. Und während Sina weiterhin mit einer gewissen Befremdung die Aktivitäten ihrer Gastgeberin beobachtete, die sorgsam ein Stück nach dem anderen inspizierte und jetzt sogar ein Okular benutzte, fiel ihr deren rissigen Hände auf. Offenbar arbeitete die Töpferin auch viel mit Chemikalien und legte keinen sonderlichen Wert auf eine pflegende Handcreme.
Plötzlich hielt sie einen der Wichtelmänner in die Höhe, es war der mit