Der Meerkönig. Balduin Möllhausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Balduin Möllhausen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754176504
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gekommen, als die Gräfin vollständig reisefertig in der Thüre erschien. Ihr auf dem Fuße folgte mit einem umfangreichen Bündel eine ältere Dienerin, die den Auftrag erhielt, ihre Last sogleich in den Wagen zu legen.

      Der Doctor zögerte darauf nicht länger. Nachdem er noch einen zufriedenen, fast zärtlichen Blick auf Renate geworfen, in deren lebhaften Augen die hohe Theilnahme glühte, welche sie schon jetzt für eine ihr noch vollständig unbekannte Sache hegte, schritt er ihr voraus der Thüre zu.

      Ein Diener, auf dem Arme den Ueberrock des Doctors, schloß sich ihnen auf der Treppe an, doch bequemte der alte Herr sich erst unten auf der Hausflur dazu, den Rock, und zwar, nach Zurückweisung jeder Hülfe, anzuziehen, und einige Secunden später saß er neben der Gräfin im Wagen. Er bezeichnete sodann noch die Stelle, auf welcher der Wagen halten solle, und in raschem Trabe eilten die Pferde durch die erleuchteten Straßen dem in nur spärlich durch trübe Laternen unterbrochenem Dunkel daliegenden verrufensten Stadttheile zu.

      7. In der Höhle des Elends.

      In jeder großen oder auch nur größeren Stadt, gleichviel, in welchem Lande und welchen Namens, befinden sich Straßen, die vorzugsweise dem Geschäftsverkehr eingeräumt sind, und andere, in denen der Scheinglanz irdischer Größe und des Reichthums seine dauernde Wohnung aufgeschlagen hat. Wieder andere und durch ihr zum Theil rußiges Aeußere weniger einladende Stadttheile erweisen sich als die Asyle der im Kleinen schaffenden Gewerke, in welchen die Nähnadel geschwungen, der Schusterpfriemen gehandhabt und vor winzigen Essen rothglühendes Drahteisen in kurze und lange, kopflose und dickköpfige Nägel verwandelt wird.

      Noch andere Gassen und Gäßchen zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen Haus bei Haus die Thüren mitgetragenen und funkelnagelneuen Kleidungsstücken so dicht verhangen sind, daß sie kaum noch einen Durchgang gewähren, während die trüben Schaufenster ganze Arsenale von verrosteten Säbeln, verbogenen Czako's, vergilbten und grün angelaufenen Tressen, Knöpfen und Epaulettes und verblichenen Uniformstücken zeigen.

      Endlich aber auch stößt man auf zusammengedrängte Häuserreihen, in welchen Elend und Verbrechen heimisch sind und wohin die wärmenden und belebenden Sonnenstrahlen wie ermuthigender Trost und liebreiche Ermahnungen nur spärlich, sehr spärlich ihren Weg finden.

      Was sollten auch wohl die Sonnenstrahlen in den engen Gassen und Höfen, wo ihre Wärme dazu dienen würde, den feuchten Kehrichthaufen giftige Miasmen zu entlocken? Was sollen Trost und Ermahnungen in branntweinduftenden Höhlen oder am Lager der Hungernden und Kranken, die nur in der erstarrenden Hand des Todes ihren letzten Trost erblicken und sich durch das Ersinnen und Ausführen von Verbrechen gleichsam an der gefühllosen Welt zu rächen suchen? Wer aber unter solchen, die von einem freundlichen Geschicke dazu berufen, vor festlich geschmückten und strahlenden Zuhörern und andächtig erhobenen Augen weise Betrachtungen über den barmherzigen Samariter anzustellen, möchte die mit Wohlgerüchen angefüllte Atmosphäre mit der dicken Luft in jenen scheußlichen Baracken, wenn auch nur auf Stunden, vertauschen, um mit der Erklärung des kindlichen Spruches: »Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme,« die Zeit zu vergeuden?

      Wie Glanz und Reichthum ihre Privilegien besitzen, so sind auch dem Elende und dem Verbrechen ihre Vorrechte stillschweigend von der Gesellschaft zuerkannt worden, nämlich die Vorrechte, daß Seufzer und Klagen ungehört verhallen dürfen, die Augen der wachsamen Polizei gleich kalt über unverschuldete wie verschuldete Leiden hinwegschweifen und, außer der strengen Hand der Gerichtsbarkeit, sich Niemand in ihre inneren Angelegenheiten mischt.

      Es ist daher auch überflüssig, die Wege, die nach jenen verrufenen Stadtwinkeln führen, genauer zu beschreiben. Derjenige, dessen Endziel in jenen finsteren Regionen liegt, wird sie früh genug und ohne weitere Anweisungen erreichen, und Andere, die höchstens von Neugierde beseelt sind, brauchen nur dem täglich in unabänderlicher Weise einherwogenden Menschenstrome zu folgen, um in weitem Umkreise um die Abscheu einflößenden Orte und Gegenden herum zu gelangen, wonach deren Lage dann leicht zu berechnen. Für diejenigen aber, die auf ungefährlichem Wege und ohne die von Laster und Krankheitsstoffen geschwängerte Luft einzuathmen, also durch Mittheilungen Anderer, sich Kenntniß von einzelnen Vorgängen in dem modernen Gomorrha zu verschaffen wünschen, für die genügt es, zu wissen, daß das Haus, in welches ihnen hier im Geiste Zugang verschafft werden soll, in einem engen Gäßchen liegt, welches eine andere, diesem sprechend ähnliche, nur viel längere Gasse quer durchschneidet und auf dem einen Ende sackartig ausläuft, mit dem andern Ende dagegen in eine düstere, vom Verkehr nur spärlich berührte Straße mündet. Das betreffende Haus scheint uralt zu sein; es ist wenigstens nicht denkbar, daß ein Gebäude, welches vier Stockwerke hoch hinaufreicht und dessen wenige kleine, fast gleichseitige Fenster willkürlich auf der umfangreichen Wand ohne die geringste Symmetrie angebracht wurden, in den beiden letzten Jahrhunderten errichtet worden ist. Auch die niedrige Lage der vergitterten Fenster des Erdgeschosses, sowie der Umstand, daß von der schmalen Hausthür aus gleich einige Stufen nach innen niederwärts führen, und daß an vielen Stellen der rußige Kalküberzug von dem mit verrosteten Nägeln und Drahtgeflecht bedeckten Fachwerk abgefallen ist, sprechen für das hohe Alter der unheimlich düsteren Baulichkeit.

      Bei Tage scheint dieselbe ausgestorben zu sein, oder sie gleicht vielmehr einem alten Magazine, in welchem nur solche Gegenstände untergebracht werden, die man in vielen Jahren nicht anzurühren und noch weniger hervorzuholen gedenkt; denn so lange bleibt ein Vorübergehender nicht vor derselben stehen, um die einzelnen übernächtigen und von verwirrtem Haar umgebenen Gesichter zu bemerken, die gelegentlich hinter den erblindeten, theilweise mit Papier verklebten Fenstern vorübergleiten oder auch stiere, gleichgültige Blicke nach der Straße hinaus werfen. Kinder aber befinden sich zur Tageszeit nicht im Hause; sie sind fort, weit fort, nach Gegenden, wo man sie nicht kennt, theils um zu betteln, theils um dem ergiebigeren Gewerbe der Dieberei nachzugehen.

      Doch auch an jenem kalten Winterabende, an welchem Doctor Bergmann die Gräfin Renate zu dem nächtlichen Ausfluge aufforderte, zeigte das unheimliche Haus nur wenig Leben auf der Straßenseite.

      Alles war still hinter den düsteren Mauern, und die Stille war um so auffälliger, als durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden des unteren Geschosses schmale, wenn auch trübe Lichtstreifen die Anwesenheit von Menschen verriethen, während in den oberen Stockwerken hier und dort eine matte Beleuchtung durch die dick mit Eis belegten Scheiben in's Freie fiel.

      Dort oben brauchte man keine Fensterladen, um das Treiben der Bewohner vor neugierigen, unberufenen Blicken zu verbergen, indem das gegenüberliegende, kaum sechszehn Fuß weit entfernte Haus mit seiner von keinem einzigen Fenster unterbrochenen Rückwand die Gasse begrenzte, das rußige Fachwerk also einen weit besseren Schutz gegen fremde Augen gewährte, als die Tausende und aber Tausende von Eiskrystallen, die auf den Scheiben in eine einzige Kruste zusammengefroren waren. Herrschte in dem Hause aber wirklich geräuschvolles Leben, so befand sich dasselbe nach dem Hofe hinaus, also durch zu viele Wände und Räumlichkeiten von der Straße getrennt, als daß die Ohren einzelner vorüberschreitender Wächter der öffentlichen Sicherheit dadurch hätten berührt werden können.

      Wie schon erwähnt, führten von der Hausthür drei Stufen niederwärts auf die Hausflur, die als schmaler Gang die Straße mit einem kleinen Hofe verband. Der Hof bildete indessen keineswegs die Grenze des Grundstücks, sondern, sich an die Rückwand des nächsten Hauses anlehnend, erhob sich auf demselben eine Art Hintergebäude. Dasselbe, obwohl in einem Zustande gefährlicher Verwitterung, war in fast allen Theilen bewohnt, und zwar von Leuten, die, freier in ihren Bewegungen, sich wenig darum kümmerten, in wie hohem Grade der von ihnen erzeugte Lärm den engen Hofraum erfüllte.

      Nur in dem einen Winkel zur ebenen Erde, der rechts von der windschiefen und lose in ihren Angeln hängenden Thüre lag, herrschte ein dumpfes Schweigen. Dasselbe bildete einen seltsamen Gegensatz zu dem wilden, summenden Geräusch in den übrigen Theilen der Baracke, aber auch zu dem hellen, flackernden Schein, der das ungleichseitige, mit lauter kleinen, geborstenen Scheiben ausgefüllte und dick beeiste Fenster transparentartig erglühen machte.

      Zu der hinter diesem Fenster liegenden Räumlichkeit gelangte