Heiße Thränen entströmten den Auen des jungen Mannes; Er war so fest überzeugt, daß Jedermann von seiner Unschuld überzeugt sein und daß er bei Jedem Theilnahme finden müsse, daß er, das Bedürfniß fühlend, seinen Schmerz in den Busen irgend eines Menschen auszugießen, den Kopf auf die Schulter des königlichen Procurators legte, der von seinem Sitze aufgestanden war.
Dieser stieß ihn sanft zurück. So sehr er auch an Scenen dieser Art gewöhnt war, so konnte er sich doch einer gewissen Rührung nicht erwehren.
»Dieser Mensch ist kein Mörder,« sagte der eine der beiden Gensd’armen« welche mit dem Gefangenen in das Kabinet des königlichen Procurators gekommen und an der Thür stehen geblieben waren, leise zu seinem Kameraden. »Wenn ich der königliche Procurator wäre, so würde ich es ohne Weiteres auf meine Gefahr nehmen und ihn entlassen.«
»O, o! erwiderte der Andere, was bedeutete: »Das wäre doch viel gewagt.«
»Besorgen Sie einen Wagen, Gensd’armen,« sagte der Procurator, und entfernen Sie die Menschen, die sich unten versammelt haben werden.«
»Ich danke Ihnen dafür,« sagte Jean.
Bald darauf stieg der angebliche Mörder und der königliche Procurator, sowie der Instructionsrichter und der Polizeicommissair, die man eingeladen hatte, in den herbeigeholten Wagen, welcher die Straße nach Lafou einschlug.
Bei der Ankunft in dem Dorfe sprach Jedermann nur von dem in der Nacht begangenen entsetzlichen Verbrechen.
Man hatte den Weg fast schweigend zurückgelegt. Was geschah, war für Jean so unerhört, so überraschend, so betäubend, daß er endlich vergaß, wohin er sich begab, daß sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, das was er bis zum heutigen Morgen gethan, mit dem, was er hatte thun wollen, in seinem Kopfe unter einander wirrte, so daß er auf der Straße nach Beaucaire zu fahren glaubte, daß er nicht mehr daran dachte, welches gräßlichen Verbrechens er beschuldigt wurde und daß er in Begleitung von zwei Gensd’armen und drei Gerichtspersonen reiste.
Er mußte sich auch wirklich einen Augenblick besinnen, ehe er sich die Bewegung erklären konnte, welche in dem Dorfe herrschte, das bei seiner Abreise an diesem Morgen so ruhig und friedlich gewesen war.
»Da kommt er! Der ist’s!« sagte eine Stimme aus dem vor der Thür des Pfarrhauses, welche von dem Feldhüter und zwei Gensd’armen besetzt war, versammelten Volke.
Jean blickte auf und erkannte den Bauer, den er gestern Abend nach der Wohnung seines Oheims gefragt hatte.
Dieser Mann suchte jetzt eine besondere Ehre darin, in der Untersuchung als Zeuge aufgerufen zu werden. Es giebt Menschen, welche ihrer Person eine Wichtigkeit zu geben glauben, wenn sie in einem Drama, wie das von dem wir sprechen, eine Rolle spielen können, sei sie auch noch so unbedeutend. Sie wollen öffentlich sprechen, sie wollen einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sie wollen einige Tage ein Gegenstand der Neugierde für die alten Weiber ihres Stadtviertels und für die Portiers ihrer Straße sein. Was sie sagen werden, wissen sie in der Regel noch nicht, was sie gesagt haben, wissen sie nicht mehr, aber ihr Zweck ist erreicht und besonders denken sie nicht daran, wie schwer ihre Aussage« so unbedeutend sie auch sein möge, in der Wage der Gerechtigkeit wiegt und wie sehr ihre kleinliche Eitelkeit oft die Lage eines Verbrechers verschlimmern, oder, >was noch viel trauriger ist, zu der Verurtheilung eines Unschuldigen beitragen kann.
Der königliche Procurator, der Instructionsrichter, der Polizeicommissair und Jean Raynal traten in das Pfarrhaus.
Wie viele von den draußen Stehenden wünschten mit ihnen gehen zu können!
»Erkennen Sie die Oertlichkeit?« fragte der Instructionsrichter den Angeklagten.
»Ja,« antwortete Jean mit Ruhe« denn je mehr er nachdachte, desto unmöglich, schien es ihm, daß seine Unschuld nicht selbst den Verblendetsten und den Böswilligsten, diesen freiwillig Verblendeten, in die Augen springen mußte.
»Schreiben Sie Alles nieder, was Sie hören werden,« sagte der Instructionsrichter zu dem Polizeicommissair; dann wandte er sich wieder mit den Worten an Jean:
« »Er zählen Sie uns Alles, was gestern seit dem Augenblicke Ihrer Ankunft in diesem Hause, bis Sie es wieder verlassen haben, geschehen ist.«
Jean erzählte offen und wahrheitsgetreu Alles, was wir schon wissen und der Polizeicommissair brachte seine ganze Erzählung zu Protokoll, ohne etwas daran zu ändern.
»Jetzt wollen wir hinauf gehen,« sagte der Instructionsrichter, indem er das Gesicht des Angeklagten genau beobachtete, um zu sehen, welchen Eindruck es auf ihn machte, daß er seinen Schlachtopfern gegenüber gestellt werden sollte. Aber die Züge des jungen Mannes zeigten keinen Ausdruck von Furcht, wie der Beamte erwartet hatte, sondern einen Ausdruck von Mitleid und Rührung.«
»Mein armer Oheim!« sagte er, sich die Thränen trocknend, und folgte dann dem königlichen Procurator, der vorausgegangen war.
Die drei Gerichtspersonen und Jean traten nebst einem Arzte, den man herbeigerufen hatte, in das Schlafzimmer des Pfarrers, wo ein gräßliches Schauspiel sie erwartete.
Der Pfarrer lag im Hemd auf dem Fußboden, mitten in einer großen Blutlache; sein Kopf und seine Brust waren von Messerstichen ganz zerhackt. Ob er nach der Ermordung aus dem Bett gezogen worden, ob er während des Kampfes mit dem Mörder herausgefallen war, dies konnte Niemand sagen, als der Mörder, und der Mörder war gewiß nicht da.
»Der Tod scheint augenblicklich erfolgt zu sein,« bemerkte der Arzt, nachdem er den Leichnam betrachtet hatte; »diese Wunde,« sagte er, auf einen Stich in der Gegend des Herzens zeigend, »ist ihm ohne Zweifel zuerst beigebracht worden und hat ihn getödtet; die übrigen wären nicht nöthig gewesen und der Mörder hat sie nur noch zu größerer Sicherheit oder aus einem Uebermaße von Barbarei hinzugefügt.«
Jean vergaß heiße Thränen, während er diesen blutenden Körper betrachtete, der ihn gestern so liebevoll in seine Arme geschlossen hatte.
»Und ich werde einer solchen empörenden That angeklagt!« sagte er, indem er neben den Leichnam kniete und ihm einen Kuß auf die Stirn drückte.
»Erkennen Sie den Pfarrer Raynal?« fragte ihn der Instructionsrichter.«
»Ja, ich erkenne ihn.«
»Gestehen Sie, ihn ermordet zu haben?«
»Schreiben Sie, nein Herr,« sagte Jean zu dem Polizeicommissair, »daß ich die Hand auf den Leichnam meines ermordeten Oheim’s gelegt und bei Gott geschworen habe, daß ich unschuldig bin!«
Als der Commissair dies niedergeschrieben hatte, sagte der Instructionsrichter:
»Jetzt wollen wir zu der Haushälterin gehen.«
Alle begaben sich in das Schlafzimmer der Alten, die noch in ihrem Bett lag und an der keine Spur einer Verwundung zu sehen war.
»Diese Person ist erwürgt worden,« sagte der Arzt, nachdem er den Körper aufmerksam betrachtet hatte, »und der Thäter muß eine bedeutende Kraft besessen haben, denn er hat es nur mit Einer Hand ausgeführt.«
»Glauben Sie, daß dieser junge Mann stark genug ist, um den Mord auf diese Weise begangen zu haben?« fragte der königliche Procurator den Arzt.
»Zeigen Sie mir Ihre Hand,« sagte dieser zu Jean, nachdem er ihn begleitet hatte.
Jean that es.
»Umspannen Sie den Hals dieser Frau mit Ihrer rechten Hand.«
Mit abgewandtem Gesicht umspannte Jean die Hälfte von Toinetten’s Halse mit seiner Hand.
»Es ist ohngefähr die nämliche Hand,« sagte der Arzt, »und da in einem solchen Augenblicke die Kräfte eines Menschen sich verdoppeln, so ist es möglich, daß der Angeklagte diese Frau erwürgt hat. Allein ich erlaube mir die Bemerkung, daß