„Thomas!“, flüsterte sie scharf und näherte sich dem Beinpaar mit vorgehaltener Waffe. Ihr Partner kam hinzu, sah sofort, was Sarahs Aufmerksamkeit erregt hatte, und nahm seine Dienstpistole ebenfalls in Anschlag.
„Vorsicht!“, raunte er halblaut und umrundete Sarah, um ihr Deckung geben zu können. Die Polizistin schob sich langsam weiter vor, bis sie den Rest des Mannes sehen konnte, der tatsächlich mit aufgerichtetem Oberkörper halb an der Wand, halb an dem Highboard lehnte. Er saß in einer Lache aus dunklem Blut, seine rechte Hand lag offen im Schoß, seine linke neben dem Oberschenkel auf dem Boden. Beide Hände waren blutig und Sarah schlussfolgerte, dass der Unbekannte sie auf die große Bauchwunde gepresst hatte, die sich unter dem komplett durchtränkten Hemd befinden musste. Jetzt erkannte Sarah auch Schnitte in den Unterarmen. Hals und Gesicht wiesen ebenfalls grässliche, klaffende Wunden auf. Der Täter musste mit großer Wut auf sein Opfer eingestochen haben oder aber, sofort kam Sarah das Mädchen wieder in den Sinn, mit panischer Angst versucht haben, sich zu retten. Ohne in die Blutlache zu treten wagte sie sich anzunähern, ging in die Knie und versuchte, an den geschlossenen Augenlidern des Mannes eine Bewegung zu erkennen, doch es war nicht einmal das geringste Zittern zu sehen. Etwas mutiger rutschte sie näher und streckte die linke Hand aus, um möglicherweise einen Puls zu ertasten. Sie bemühte sich, nicht in das Blut zu fassen, das auch am Hals hinunterlief, legte die Finger auf die Carotis und hoffte, noch ein Lebenszeichen feststellen zu können.
Mit einem Mal richtete sich der Körper unter lautem Schreien auf! Die blutverschmierte Hand griff nach Sarahs Schulter und das groteske Gesicht näherte sich ihr mit weit aufgerissenen Augen. Sarah versuchte panisch zurückzuweichen, doch der Mann hielt sie mit eisernem Griff! Der laute Schrei ging in ein Gurgeln über. Sekundenbruchteile darauf schoss ein Schwall Blut aus dem Mund und ergoss sich über Sarahs Jacke und Jeans. Dann würgte und hustete der tödlich Verwundete und Sarah konnte die Spritzer des warmen Blutes in ihrem Gesicht spüren! Endlich gelang es ihr, sich von dem Mann wegzustoßen. Sie landete unsanft auf dem Boden und war erst jetzt in der Lage, zitternd die Pistole zu heben. Doch trotz des Schreckens und des Ekels realisierte sie, dass keine Gefahr mehr von dem Verletzten ausging. Spasmisch schüttelte sich sein Körper, ein letztes Röcheln kam über seine Lippen, blutiger Schaum quoll aus dem Mund. Langsam kippte er zur Seite. Sarah war sofort klar, dass er in eben diesem Moment den letzten Rest Lebens ausgehaucht hatte, und sie ließ die Waffe sinken. Sie sah zu Thomas, der seine H&K aus dem Anschlag nahm und begriff, dass er zwar hätte schießen können, aber rechtzeitig erkannt hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff lediglich um die Reflexe eines unbewaffneten Totgeweihten gehandelt haben musste. Mit zitternden Händen legte sie die Pistole neben sich, öffnete die Seitentasche ihrer Winterjacke und brachte eine Packung Papiertaschentücher zum Vorschein. Diese aufzureißen vermochte sie nicht zu bewerkstelligen, doch Thomas, der seine Pistole weggesteckt hatte, ging neben ihr in die Knie, öffnete die Cellophanhülle, entnahm eines der Tücher und wischte Sarah vorsichtig durch das Gesicht. Erst um den Mund, dann um die Augen und schließlich über Nase, Wangen und Stirn. Perplex über das unerwartete Verhalten und dankbar für die Hilfe ihres Partners, ließ sie die fast zärtlich anmutende Prozedur über sich ergehen.
„Bist du okay?“, fragte er und fixierte sie eindringlich.
„Ja“, antwortete sie knapp und hauchte noch ein Danke hinterher.
„Gut! Wir sind nämlich noch nicht fertig!“
Er wandte sich dem unbekannten Mann zu, tastete jetzt seinerseits nach der Halsschlagader und verharrte mit geschlossenen Augen. Kurz darauf sah er zu Sarah und bestätigte mit einem Kopfschütteln, dass das Opfer nunmehr wirklich tot war.
„Reanimieren?“, flüsterte Sarah, doch Thomas` Kopfschütteln wurde eindringlicher.
„Sieh dir den Blutverlust an. Und die Anzahl der Stichwunden. Die Lunge ist sicher etliche Male perforiert. Da ist nichts mehr zu machen. Ein Wunder eigentlich, dass er es bis so lange geschafft hat.“
Er stand auf, reichte ihr die Hand und zog sie mühelos in die Senkrechte. Dann griff er erneut zu seiner Waffe, wartete, bis Sarah die ihre aufgehoben hatte, und wandte sich der Tür zu. Doch bevor sie in den hinteren Teil vordringen konnten, meldete sich der Hundeführer in den Ohrhörern.
„Was war da los? Was war das für ein Schrei?“
„Alles in Ordnung“, beruhigte Sarah in gedämpftem Tonfall den draußen wartenden Kollegen. „Wir hatten einen Vorfall der minder schweren Art.“
Sie sah ein Schmunzeln über Thomas` Gesicht huschen und konzentrierte sich wieder auf die Tür vor sich. Unter dem Türblatt drang ein schwacher Lichtschein durch und Sarah erinnerte sich, dass sie von außen gesehen hatten, dass der Raum ein wenig beleuchtet war.
„Eigentlich können wir reingehen, oder? Nach dem Lärm wäre selbst Beethoven in seinen späten Jahren auf uns aufmerksam geworden, meinst du nicht?“, meinte Sarah trocken, doch trotzdem betraten sie den nächsten Raum unter größter Vorsicht.
Die Kammer, in der eine kleine, abgedunkelte Nachttischlampe für etwas spärliches Licht sorgte, hatte ganz offensichtlich als Zelle gedient. An einem metallenen Bettgestell, das in der hinteren linken Ecke an der Wand stand, hingen dicke, faserige Seile, mit denen, so ließ der Anblick vermuten, das rothaarige Mädchen festgebunden worden war. Da sich außer dem Bett lediglich eine Kommode in dem Raum befand, und sich somit keinerlei Versteckmöglichkeit für einen Hinterhalt bot, tastete Thomas nach einem Lichtschalter und schaltete, nachdem eine nackte Neonröhre flackernd ansprang, seine Taschenlampe. Auch Sarahs Maglite erlosch, bevor sie sie in die Seitentasche ihres Parkas gleiten ließ. Wortlos sahen sich die beiden um. Sarah näherte sich der wuchtigen, schwarzen Kommode, in deren Schatten sie einen Plastikabfalleimer entdeckte. Bis auf einige Papierfetzen und einer Ansammlung kleiner Fläschchen war dieser leer, doch ein Blick auf die Kommode bestätigte ihr, dass es sich bei dem Inhalt der braunen Ampullen um eine medizinische Flüssigkeit gehandelt haben musste: Sie erkannte eine Injektionsspritze und ein wenig Verbandsmull sowie eine Rolle Leukoplast.
„Er muss dem Mädchen etwas gespritzt haben“, informierte Sarah ihren Partner. „Das sind die Utensilien dazu.“
„Und zwar immer wieder“, ergänzte Thomas, der an das Bett herangetreten war. „Dort liegt ein Venenzugang mit einem Stück Schlauch. Ich vermute, sie wurde auf diese Weise ruhiggestellt.“
Noch bevor Sarah den Fund auf der zerwühlten Bettdecke in Augenschein nehmen konnte, ertönte abermals die Stimme des ungeduldigen Hundeführers aus den Funkgeräten.
„Ist da drin alles okay? Brauchen Sie meine Hilfe?“
„Alles in Ordnung, wir brauchen Sie nicht“, antwortete diesmal Thomas dem Kollegen.
„Wir kommen gleich raus und überlassen das Feld der Spurensicherung. Finden Sie bitte heraus, wie die mit einem Fahrzeug hierherkommen. Ich habe ein wenig die Orientierung verloren, aber vielleicht ist ja irgendein Kaff in der Nähe. Der Weg, den wir genommen haben, ist mit dem ganzen Equipment zu weit und zu beschwerlich.“
„In diesem Fall würde ich trotzdem gerne zu Ihnen reinkommen“, tönte es zögerlich von draußen. „Da drinnen ist es bestimmt etwas wärmer, oder?“
Sarah und Thomas tauschten kurze Blicke, wobei es Sarahs Miene war, aus der etwas Bittendes zu lesen war, während Thomas ein skeptisches Stirnrunzeln offenbarte. Trotzdem lenkte er ein.
„In Ordnung, kommen Sie durch den Vordereingang rein und bleiben Sie in dem ersten Zimmer. Legen Sie den Hund in der Nähe des Herdes ins Platz und sehen Sie zu, dass weder er noch Sie etwas kontaminieren.“
Ein erleichtertes Danke drang zu den beiden in den Raum und die knirschenden Schritte des Kollegen entfernten sich. Sarah und Thomas sahen sich weiter um.
Just in dem Moment als Dr. Wiese der