„Genau diesen Gedanken hatte ich auch.“ Er sah ungeduldig auf die Uhr.
„Wir brauchen dringend die Hunde und auch die Spurensicherung. Ich bin sicher, dass es einen Tatort zu finden gibt.“
Jetzt erst wandte sich Thomas an die Beamten auf dem Fahrer- und Beifahrersitz.
„Haben Sie noch etwas bemerkt, was Ihnen aufgestoßen ist oder was für uns von Relevanz sein könnte?“
Zwei übermüdete Augenpaare trafen sich, dann drehten sich beide nach hinten um und schüttelten den Kopf.
„Nicht, dass ich mich an etwas erinnern könnte“, sagte der ältere Polizist auf dem Fahrersitz.
„Okay, dann wären Sie beide eigentlich hier fertig. Den vollständigen Einsatzbericht bitte an das K11 zu meinen Händen.“
Nachdem er ein verlangsamtes, fast resigniertes Nicken entgegengenommen hatte, setzte er im Laufe des Montagvormittags hinzu, woraufhin die Gesichter der Polizisten deutlich entspannter wirkten. Sarah nahm diese verständnisvolle Geste ihres Partners ein wenig erstaunt aber erfreut wahr, ließ Thomas doch für gewöhnlich keine Verzögerungen oder Entschuldigungen zu, wenn es um berufliche Anweisungen ging. Der Uniformierte auf dem Beifahrersitz übergab Thomas, der die Tür bereits geöffnet hatte, einen weiteren Beutel, in dem ein Stück weißer, mit Blut beschmutzter Stoff zu sehen war.
„Dankeschön! Ihnen einen stressfreien Abend“, wünschte Sarah den Beamten, nachdem ihr Kollege den Wagen grußlos verlassen hatte. Sie stieg ebenfalls aus, setzte sich zurück in den ML und beobachtete das Wendemanöver des Einsatzfahrzeugs. Noch bevor der Wagen außer Sicht war, kündigte eine Komposition aus gelben und blauen Blinklichtern die Ankunft der Hundestaffel und der Kriminaltechnik an. Voraus fuhr ein ziviler Schneepflug, den die Kollegen irgendwie zu dieser nächtlichen Stunde organisiert hatten. Sofort nahm sich Thomas eine Taschenlampe und das mobile Funkgerät. Dann stieg er aus, um das städtische Fahrzeug und die ihm folgenden Wagen der Polizei vor der Stelle zu stoppen, an dem das Mädchen aus dem Wald aufgetaucht war. Sarah rüstete sich ebenfalls mit WalkieTalkie und Taschenlampe aus und verließ den Wagen. Noch während ihr Partner den Schneepflug anwies, zu wenden und die Straße weiter freizuhalten, verließen zwei in Winteruniformen gepackte Beamte der Hundestaffel das erste Fahrzeug und gingen in Richtung der Hecktüren des Kastenwagens. Sogleich war aufgeregtes Gebell zu hören. Auch dem Wagen der Spurensicherung entstiegen den Witterungsverhältnissen entsprechend gekleidete Polizisten. Thomas wandte sich an die Kollegen.
„Guten Abend, oder besser: Guten Morgen zusammen. Wir haben folgende Situation: Dort vorne“, er wies auf die Stelle, die das Ehepaar zuvor gezeigt hatte, „ist es zu einem Beinaheunfall mit einer Minderjährigen gekommen, die nur mit einem Nachthemd bekleidet und einem Messer in der Hand aus dem Wald aufgetaucht ist. Die Kleidung war mit einer ziemlichen Menge an Blut beschmutzt. Das Mädchen hat sich nicht zu dem Vorfall äußern können, aber wir vermuten in der Umgebung einen wie auch immer gearteten Tatort. Das bedeutet: Die Hunde gehen voraus, um die Spur aufzunehmen. Meine Partnerin und ich folgen, um gegebenenfalls den Tatort zu sichern. Sie von der Spusi haben also noch etwas Zeit, um Ihre Ausrüstung zu packen. Wir rufen Sie, wenn wir etwas finden, das kriminaltechnisch untersucht werden muss. Kanal 48.“
Er stöpselte den Kopfhörer in das Gerät und drückte sich den Lautsprecher in den Gehörgang. Dann winkte er mit dem Funkgerät und wandte sich an die Hundeführer.
„Ich habe eine Geruchsprobe, die sowohl von dem Kind als auch von unbekanntem Blut kontaminiert ist.“
Sarah zog die Tüte aus ihrer Tasche und zeigte sie den Beamten.
„Das Mädchen war wohl barfuß unterwegs. Entscheiden Sie, welcher Ihrer Vierbeiner am besten geeignet ist.“
Die beiden sahen auf das Stück Stoff in dem Beutel, blickten einander kurz an und schienen wortlos übereingekommen zu sein.
„Das mache ich mit Connor“, sagte der jüngere Hundeführer, ging um den Wagen herum und erschien kurz darauf mit einem Australian Shepherd Rüden. Der Ältere nahm Sarah die Tüte ab, öffnete sie und ließ den Hund die Schnauze hineinstecken. Dieser schnüffelte, zog nach einer knappen halben Minute die Nase aus der Tüte, setzte sich auf die Hinterläufe und wartete.
„Such!“
Es dauerte nicht lange, bis Connor anschlug, und den Erzählungen der Zeugen zufolge musste dies die Stelle gewesen sein, wo das Kind das Messer hatte fallen lassen. Der Hundeführer blickte fragend in Sarahs und Thomas` Richtung. Letzterer bedeutete dem Kollegen, den Hund weitersuchen zu lassen. Wieder vergingen keine fünf Minuten, bis der Vierbeiner sein Herrchen schnurstracks von der Straße weg in den Wald zog.
„In Ordnung“, meinte Sarah und schaltete die Taschenlampe ein. „Dann mal los.“
„Ohrhörer rein und Funkgerät auf VOX stellen! Ich möchte nicht, dass wir uns lautstark unterhalten müssen. Handys auf lautlos!“
Während Sarah und der Beamte der Hundestaffel der Aufforderung nachkamen, kramte Thomas noch sein Smartphone aus der Tasche, aktivierte die GPS gestützte Streckenaufzeichnung und ließ ebenfalls die Lampe aufleuchten. Dann folgten sie Connor in kurzem Abstand ins Dickicht des Waldes.
Auch wenn unter den hohen Tannen, um die sie der Spürhund leitete, nicht ganz so viel Schnee lag wie auf der Straße, war es anstrengend, sich durch den Wald zu bewegen. Was von den Flocken am Boden ankam, reichte allemal aus, um die Spuren des Kindes innerhalb der letzten zwei Stunden unkenntlich zu machen. Zusammen mit dem Altschnee, der in den vorangegangenen Tagen im Südschwarzwald niedergegangen war, bildete er einen anspruchsvollen Untergrund für die Vierergruppe. Allein Connor, der mit der Schnauze den Neuschnee durchpflügte, brach nicht tief ein. Manchmal versanken die Polizisten bis zur Hüfte in der weißen Pracht und Sarah begann sich zu fragen, wie das Mädchen es überhaupt bis zur Straße geschafft hatte. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das Kind wie auch der Vierbeiner einfach nicht schwer genug gewesen, um die knapp unter dem Neuschnee liegende, angefrorene Schicht zu durchbrechen und einzusinken. Während sie sich wieder einmal aus einem Loch befreite und etwas zurückblieb, sah sie, wie ihr Partner und der Hundeführer mit ihren Lampen geradezu gespenstische Szenen heraufbeschworen. Mal mutierte der Schatten des Hundes zu einer übergroßen Bestie, die mit geöffnetem Maul alles zu verschlingen versuchte, mal wurde einer der Kollegen zu einem riesigen Troll, der von Baum zu Baum sprang, bereit, alles und jeden mit seiner gewaltigen Keule zu zerschmettern! Da es selbst Sarah bei diesem Schauspiel ein wenig mulmig wurde, war sie einerseits froh, dass das Mädchen im Dunkel der Nacht unterwegs gewesen war. Allerdings wurde ihr schnell gewahr, dass sie in fast absoluter Dunkelheit von einem Baum zum nächsten gestolpert sein musste, vollkommen orientierungslos und ohne erkennbares Ziel; vor Kälte zitternd, mit halberfrorenen Gliedmaßen, das Messer wie eine Art Rettungsring krampfhaft umklammernd. Sarah schüttelte sich.
Dann doch viel lieber so, dachte sie und beeilte sich, zu ihren Kollegen aufzuschließen.
„Licht aus!“, zischte Thomas ohne Ton aber mit viel Druck in der Stimme, dass sowohl Sarah als auch der Hundeführer die Aufforderung gut hören konnten. Fast gleichzeitig erloschen die Taschenlampen der drei Polizisten. Keiner von ihnen regte sich! Das einzige Geräusch, das wahrzunehmen war, war das Hecheln des Hundes, welches über die Schneedecke merkwürdig gedämpft an die Ohren drang. Nach etwa einer Minute bemerkte Sarah, dass sie begann, Konturen wahrzunehmen. Erstaunt stellte sie fest, dass offensichtlich trotz der Dunkelheit und der Wolkendecke ein klein wenig Restlicht des Mondes den Waldboden erreichte. Jetzt erkannte sie auch, warum ihr Partner sie aufgefordert hatte, die Lampen auszuschalten: Etwas entfernt, es mochten weitere einhundert Meter sein, war ein erleuchtetes Fensterkreuz zu erkennen, das leicht flackernd zwischen