Hinter den Bullaugen veränderte sich das Licht ein wenig und kurz darauf öffnete sich ein Türflügel nach innen. In der Öffnung erschien ein Mann, vielleicht Anfang sechzig, untersetzt. Sein langer weißer Kittel war schmuddelig, die Finger, die an der Tür zu sehen waren, ungepflegt. Um seinen Hals baumelte eine OP-Maske und die dicken Gläser seiner Weitsichtbrille vermochten nicht, seinen glasigen Blick zu verschleiern. Ebenso wie die rote Nase und das aufgedunsene Gesicht gab er davon Zeugnis, dass auch am heutigen Vormittag schon zu viel Vodka die Kehle des Rechtsmediziners benetzt hatte.
„модойдите сюда“, grunzte er kaum verständlich und ohne Begrüßung. Kommen Sie.
Er trat einen Schritt zur Seite.
Zögerlich erhob sich die junge Frau, sah unsicher zu dem Uniformierten und trat, nachdem dieser genickt und mit der Hand Richtung Tür gewiesen hatte, in den Raum. Der junge Mann blieb dicht bei ihr. Schüchtern sah sie sich um, während sie dem Arzt zu einer Wand aus Kühlfächern folgte, deren Stahltüren ebenso abgenutzt und überaltert aussahen, wie die am Eingang. Sie fröstelte augenscheinlich, schob die gestrickten Pulswärmer bis über die Handfläche, stellte den Kragen ihres Mantels auf und zog den Schal etwas enger. Wieder suchte sie Augenkontakt zu dem Beamten, der ihren Blick unbeholfen erwiderte und sich dann dem Kühlfach zuwandte, an dem sich der bekittelte Mann zu schaffen machte. Die Tür schwang auf und eine Bahre wurde sichtbar. Ein Laken, weiß und sauber, deckte den menschlichen Körper ab, der auf der metallenen Schublade lag. Der Pathologe zog sie heraus, bis etwa die Hälfte davon in den Raum ragte. Ohne Ankündigung, ohne vorbereitende Worte und ohne die Frage, ob sie denn bereit sei, schlug er das Leinentuch zurück, so dass Kopf und Schultern einer jungen Frau zum Vorschein kamen. Der Tod war gnädig mit ihr gewesen. Die an Alabaster erinnernde Haut war unversehrt, die Augen und Lippen waren geschlossen. Sie strahlte eine paradoxe Friedlichkeit aus, fast, als würde sie schlafen. Der Polizist konnte sich dem zarten Antlitz der Toten ebenso nicht entziehen wie zuvor auf dem Gang dem Anblick seines Schützlings. Trotz der schulterlangen, rotgefärbten Haare der Verstorbenen war die verwandtschaftliche Beziehung zu seiner Begleiterin leicht zu erkennen. Innerlich sank er ein wenig zusammen. Wie musste sie sich fühlen? Er sah hinüber und bemerkte, dass sie vor sich auf den Boden starrte – sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Leichnam anzusehen. Und wie sie dastand, noch hilfloser und angreifbarer als zuvor, hätte er ihr die Notwendigkeit am liebsten erspart, auch wenn er wusste, dass dies nicht möglich war. Doch bevor er sich mit tröstenden Worten an die Frau wenden konnte, raunte der ungeduldig wirkende Arzt ein barsches „это ее?“ – Ist sie es?
Die Frau blickte auf und sofort zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht. Es dauerte eine Zeit, bis sie schweigend nickte und sich, bevor einer der beiden Männer es hätten verhindern können, nach vorne beugte und der Toten einen Kuss auf die Stirn gab. Dann wandte sie sich dem Polizisten zu, den die feste, fast entschlossene Stimme überraschte, als sie ihn bat, ihr genau zu erzählen, was passiert sei.
Kapitel III
Heute, 14 Jahre später
„Ich habe doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist, zu diesem Treffen zu gehen!“ Holger Wohlfahrt sah seine Frau Iris nicht an, der vorwurfsvolle Ton erübrigte eine Verstärkung durch einen scharfen Blick. Außerdem konnte er trotz des Ärgers, den er verspürte, den Anblick ihres verheulten Gesichts nicht gut ertragen, immerhin war sie es, die es in dieser Situation am schwersten hatte, das musste er ohne Abstriche eingestehen. Aber warum Iris im Vorfeld geglaubt hatte, dass es bei diesem – dem x-ten – Versuch besser laufen sollte als die Male zuvor, konnte Holger sich nicht erklären. Ein harmonisches Zusammentreffen mit ihrer Schwester und deren Mann hatte sie sich trotz der niederschmetternden Erfahrungen gewünscht. Er hatte sich gleich gefragt, warum es auf einmal anders sein könnte. Warum Patrick sie diesmal nicht von oben herab behandeln sollte, sich nicht über seine Tätigkeit als Sachbearbeiter in dem Logistikunternehmen lustig machen und nicht das halbe Deputat von Iris an der Grundschule kleinreden? Nicht über die faszinierenden Reisen prahlen würde oder ihn nicht gönnerhaft zu einer Probefahrt in seinem neuen Ferrari oder McLaren einzuladen, damit Holger auch einmal im Leben dieses Gefühl haben konnte? Er hatte Iris diese Frage gestellt, aber in ihr schien der Wunsch, von ihrer Schwester ein wenig Beachtung, Zuneigung, vielleicht gar Anerkennung zu erhalten, so bestimmend zu sein, dass sie seine Bedenken ausgeblendet und das Treffen organisiert hatte. Im Waldesruh, jenem sündhaft teuren Schlosshotel weit abseits gelegen in einem engen Schwarzwaldtal, in dem sie sich jetzt bei wildem Schneetreiben durch die immer höher werdenden Verwehungen in Richtung Freiburg kämpften.
„Wir nehmen bei diesem Wetter selbstverständlich ein Zimmer“, hatte Patrick spontan entschieden, obwohl es in Holgers Augen nichts gab, was den Mercedes G 4x42 seines Schwagers hätte aufhalten oder in Gefahr bringen können. Doch sie mussten zurück nach Freiburg: Der Gutschein, den Iris von ihren Kolleginnen zum Geburtstag bekommen hatte, deckte nicht einmal die Hälfte der Kosten für das Abendessen ab. Und so fanden sie sich, frustriert, genervt, erniedrigt und in Sorge um eine sichere Heimkehr in ihrem 2001er Renault Clio und schwiegen sich seit Holgers Feststellung gegenseitig an.
Die Bedingungen verschlechterten sich zusehends. Die Nebelscheinwerfer halfen wenig dabei, die Straße unter der Schneedecke auszumachen, und wären nicht die schwarz-roten Stangen am Fahrbahnrand gewesen, hätte man sich nicht sicher sein können, noch Asphalt unter den Rädern zu haben. Wenn es so weiterging, würden sie bald nicht mehr vorwärtskommen. Schon jetzt schob der Clio mit seiner Frontschürze Schnee auf, der dann und wann von Windböen über die Motorhaube und die Windschutzscheibe geblasen wurde. Nach und nach wurden Holgers Gedanken an den desaströsen Abend verdrängt von Plänen und Szenarien, wie Iris und er die Nacht in dem Auto verbringen könnten, sollten sie tatsächlich nicht mehr weiterkommen. Er sinnierte über die Risiken und Chancen, die Temperatur im Wageninneren bei laufendem Motor aufrechterhalten zu können und versuchte einzuschätzen, wie lange der Tankinhalt im Leerlauf die lebenserhaltende Wärme wohl bereitstellen konnte.
„Vorsicht!“
Erschrocken trat Holger auf die Bremse und riss das Steuer herum, um der Gestalt auszuweichen, die wie ein Geist aus dem Dunkel vor dem Renault aufgetaucht war! Im Augenwinkel erkannte er in Sekundenbruchteilen ein zierliches Mädchen mit langen, roten Haaren, die in ihrem weißen Nachthemd über der Straße zu schweben schien, dann schleuderte der Wagen um die eigene Achse und das Bild verlor sich Schneegestöber. Doch als das Auto nach zwei kompletten Drehungen mit dem Heck in einen Schneeberg prallte und entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung wieder zum Stehen kam, erfassten die Scheinwerfer die groteske Erscheinung wieder! Etwa zehn Meter vor ihnen stand das Mädchen, fast noch ein Kind. Erst jetzt nahm Holger Details der Szenerie war: Das weiße Nachthemd schien an Bauch und Brust blutdurchtränkt zu sein! Die Arme und Beine, die nackt aus dem dünnen Stoff ragten, waren blau vor Kälte und das furchteinflößende Messer, das das Mädchen in der Hand hielt, war ebenfalls blutverschmiert! Doch das bei weitem Schlimmste war der ausdruckslose, irre anmutende Blick, mit dem die Unbekannte ins Wageninnere starrte. Erst als die Gestalt mit zombieähnlichen Bewegungen auf sie zuwankte, hörte Holger die verzweifelten Schreie seiner Frau auf dem Beifahrersitz.
Als das Klingeln ihres Mobiltelefons Sarah Hansen aus der