Ich gehe die knarrenden Treppen hinab und zurück zu Zoe in die Küche. Sie sitzt an der Kücheninsel und blickt müde in ihre Teetasse. Als ich auf sie zukomme, schreckt sie hoch und atmet erleichtert aus, als sie sieht, dass ich es bin. Ganz kurz kriege ich einen Eindruck davon, welch schöne Frau sie einmal gewesen sein muss, doch die Angst und die Panik, die sie tagtäglich mit sich herumträgt, haben ihr Gesicht verändert. Erwartungsvoll blickt sie mich an, als wäre ich ihre letzte Rettung.
„Ich müsste mal kurz auf die Toilette. Bin gleich wieder bei dir“, entschuldige ich mich und gehe ins Gästebad.
Ich muss einfach mal kurz allein sein, weg von dieser Frau, die all ihre Hoffnungen in mich gesetzt hat.
Die Rohre hinter den Wänden gluckern, als ich das kalte Wasser aufdrehe. Es hört sich an, als käme eine Horde Ratten mit metallenen Füßen über ein Blechdach gerannt. Ich lasse das Wasser über meine Hände laufen und benetze mein Gesicht damit. Die Kühle tut gut und wirkt beruhigend. Ich nehme das flauschige Gästehandtuch und halte es mir vors Gesicht, während ich über Zoe und Julie nachdenke. Gerne hätte ich mit Zoes Mann Peter gesprochen und seine Sicht der Dinge erfahren. Seine Frau sagte mir ja schon am Telefon, dass er dem Ganzen keinen Glauben schenkt. Vielleicht hätten wir zusammen eine natürliche und logische Erklärung für den Spuk finden können.
Seufzend besehe ich mir mein Gesicht im Spiegel, als ich hinter mir, in der Ecke des Badezimmers, einen ziemlich großen, mannshohen, schwarzen Schatten sehe.
Ich kreische und greife nach der Türklinke. Panisch ziehe und rüttle ich daran, doch sie geht nicht auf. Der Schatten ist immer noch da und zu meinem blanken Entsetzen, kann ich Kopf, Schultern, lange Arme und gebeugte Beine an ihm ausmachen. Sein Gesicht teilt sich gespenstisch, und da, wo ein Mund sein könnte, öffnet sich der Schatten und ein gurgelndes Lachen ertönt. Ein Lachen, das nicht menschlich ist. Es geht mir durch Mark und Bein.
Ich reiße immer noch am Türgriff, zerre daran und versuche zu entkommen. Der Schatten macht einen Schritt auf mich zu, sein Lachen kommt näher und ich spüre wieder diesen heißen Atem, als endlich die Tür aufgeht.
Fallend renne ich durch die Tür, komme auf den Knien auf, rapple mich wieder hoch und blicke hinter mich.
Der Schatten ist verschwunden.
„Du hast ihn auch gesehen, Scarlett, oder?“, kreischt Zoe und hält ängstlich ein paar Meter Abstand, während sie die Gegend hektisch mit ihren verweinten Augen sondiert. „Ist er noch hier?“
Mein Herz rast in meiner Brust, schlägt mir bis zum Hals. „Nein, er ist wieder weg“, keuche ich.
Zoe bricht in Tränen aus. „Es reicht! Es reicht wirklich!“, schreit sie zwischen lauten Schluchzern, dreht sich um und geht in die Küche.
Ich folge ihr, wobei ich keine Ahnung habe, wie ich sie beruhigen soll, wie ich ihr und mir selbst erklären kann, was gerade geschehen ist.
Hektisch zieht Zoe zwei schwere Koffer aus dem Abstellraum neben der Küche hervor und ruft lauthals nach ihrer Tochter.
„Wir gehen“, verkündet sie energisch, wobei Tränen unaufhörlich von ihren Wangen tropfen.
Julie kommt durch die Tür, sieht mit aufgerissenen Augen zwischen mir und ihrer Mutter hin und her.
„Nimm deinen Koffer, Julie. Wir gehen zu Tante Mira.“
Das Mädchen nimmt ihrer Mutter einen Koffer ab. Dann blickt sie mich fast entschuldigend an, doch Zoe drängt sie an mir vorbei in den Flur.
Schnell nehme ich meine Sachen und folge den beiden. Zoe läuft mit schnellen Schritten zur Haustür und mahnt ihre Tochter zur Eile. Ich haste hinterher.
Draußen tobt der Wind, der Regen peitscht durch die nun geöffnete Haustür hinein und ein weiterer Blitz erhellt kurzzeitig den Himmel. Zoe holt einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche, fummelt daran herum und wirft mir einen einzelnen Schlüssel zu. Nur mit Mühe fange ich ihn. Sie befiehlt ihrer Tochter zum Auto zu gehen und diese rennt los.
„Wir gehen, Scarlett. Ruf mich an, wenn das Ding weg ist. Egal wie lange es dauert, oder was es auch kosten mag, mach es weg!“, ruft sie mir entschlossen über den Donner, den prasselnden Regen und das Peitschen des Windes zu.
Dann rennt sie selbst zur Garage, den Koffer hinter sich herschleifend, durch die herabfallenden Wassermassen und lässt mich allein zurück.
Kapitel 6
Ein weiterer Blitz durchzuckt den Himmel, als auch ich fluchtartig das Haus verlasse. Auf keinen Fall bleibe ich mit diesem Schattenwesen alleine zurück!
Ich werfe die Tür hinter mir zu und haste in mein Auto, während Zoe mit ihrem silbernen SUV an mir vorbeirast. Mit durchdrehenden Reifen manövriert sie diesen riesigen Wagen zwischen den Bäumen hindurch hinaus auf die Straße. Ich blicke ihr nach, bis sie hinter Regengüssen aus meiner Sicht verschwindet.
Mein keuchender Atem lässt rasch die Scheiben von innen beschlagen, meine Hände beben und mein Herz rast. Ich stelle den Scheibenwischer an, verriegle den Wagen von innen und blicke durch den Regen am Haus empor, als ich den Motor anlasse. Oben, an einem der Fenster, das wie ein finsteres Auge auf mich herabstarrt, huscht ein schwarzer Schatten entlang und die Gardine beginnt zu zittern.
Ich lege panisch den ersten Gang ein, schlage das Lenkrad herum und gebe Vollgas. Holpernd komme ich auf die Auffahrt und blicke in den Rückspiegel. Das Haus lacht. Es lacht mich eigenartigerweise aus und für den Bruchteil einer Sekunde höre ich das gurgelnde, knurrende Fauchen in meinem Nacken. Ich schreie und fahre ruckelnd vom Grundstück.
Auf der Straße zwinge ich mich dazu, die Panik zu vertreiben und konzentriere mich mehr auf das Schalten und angemessene Gas geben, während ich angestrengt durch den Regen blinzle. Erst, als ich das Haus nicht mehr im Rückspiegel sehen kann, fahre ich rechts ran. Meine Hände umklammern das Lenkrad, sodass meine Knöchel weiß hervortreten. Die Wassertropfen trommeln unaufhörlich auf das Dach und übertönen fast gänzlich meine Gedanken. Ich atme tief ein und reibe mir die Stirn.
Was habe ich dort im Haus gesehen, frage ich mich und schüttle mit dem Kopf. Es kann kein Geist gewesen sein, denn so etwas gibt es nicht.
Oder doch?
Mein Blick fällt auf den Stapel Sachen auf dem Beifahrersitz. Mit den Fingerspitzen fahre ich über das in Leder gebundene Buch. Was würde Elvira jetzt tun? Ich soll mich um ihre Kunden kümmern, und alles, was ich dazu wissen muss, hat sie in diesem Buch niedergeschrieben, hieß es in ihrer Nachricht.
Kopflos drücke ich die Stirn gegen das Lenkrad und seufze laut. Ich darf meine Tante nicht enttäuschen. Sie hat sich immer um mich gekümmert, vor allem nachdem meine Mutter es nicht mehr konnte. Elvira ist immer für mich da gewesen.
Andererseits wehrt sich alles in mir dagegen, wieder zu diesem Haus zu fahren. Was ich auch immer dort gesehen habe, es hat mir mächtig Angst eingejagt. Ich brauche erst mal ein bisschen Abstand, eine kurze Pause, um mir darüber klar zu werden, was ich nun als nächstes tun soll.
Also starte ich erneut den Motor und fahre zu meiner Mutter in die Klinik.
Ich stelle meinen schwarzen Panther auf meinem Stamm-Parkplatz ab, nehme das Buch und meine Handtasche und gehe am Pförtner vorbei durch den Klinikeingang.
„Hallo Scarlett!“, begrüßt mich Henry, der Pförtner, freundlich und lächelt breit, während er seinen prallen Weihnachtsmannbauch vorstreckt. „Herrliches Wetter heute, oder?“
Ich blicke zum Himmel, an dem nur ein paar vereinzelte Wattebauschwolken zu sehen sind. „Hallo Henry, ja, es ist wirklich ein schöner, sonniger Tag“, antworte ich und blinzle ein bisschen konfus in die Sonne.
„Grüß‘ deine Mutter von mir“, ruft er mir nach, als ich durch die Glastür husche, schlägt