Mara setzte sich an den Küchentisch und widmete sich gezwungenermaßen der Fernsehzeitschrift. Im Ersten kam „Straße der Lieder“ mit Gotthilf Fischer, das war wohl nichts, im Zweiten wurde ein Fußballspiel übertragen, im Dritten kam ein Bericht über die Semperoper in Dresden. Nebenan hörte sie, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel und jemand die Treppe hinunter rannte. Sie schaute in den Hof. Da stand Sonja geschminkt und gut aussehend, neben ihr ein schmaler Typ mit blondem, halblangem Haar und Brille. Von weitem sah er aus wie ein Philosoph. Sie schlossen ihre Fahrräder auf und fuhren aus dem Hof. Fort waren sie. Mara blätterte weiter und entschied sich für einen Krimi „Mord in Greenwich“. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, nahm aus dem Weinregal eine Flasche französischen Merlot und fläzte sich auf ihr Ledersofa. Der Film war, wie zu erwarten mittelmäßig. Trotzdem schaute sie ihn sich an. Danach zappte Mara durch die Programme. Um zweiundzwanzig Uhr kam auf Kabel Eins „Armee der Finsternis“, eine Horror-Komödie. Sie benötigte weder Horror noch eine Komödie. Der Horror, den sie kannte, hatte wahrlich wenig von einer Komödie. Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und schaltete weiter. Im Zweiten lief ein Action-Thriller mit dem Titel „Codename Nina“. Mara schaute die Hälfte des Films und leerte die Flasche Merlot. Dann schlief sie auf dem Sofa ein. Um halb zwei schaltete sie den Fernseher ab und ging zu Bett. „So, Maralein, das war Dein Samstagabend“, murmelte sie vor sich hin und löschte frustriert das Licht. Irgendwann später hörte sie, wie Sonja nach Hause kam. Sie lachte im Treppenhaus. Es klang albern und schrill und dann hörte sie eine männliche Stimme, die beruhigend auf sie einredete.
Als sie am nächsten Morgen ihren Kaffee kochte und aus dem Fenster schaute, sah sie, dass der Himmel stahlblau war.
Es war ein strahlender Morgen, ein Morgen, der einen traumhaften Frühsommertag versprach. Tauben spazierten fröhlich auf dem Kupferdach der Meiers auf und ab. Frau Meier hatte das Fenster des Schlafzimmers weit geöffnet und die Bettwäsche zum Lüften über den Rahmen gehängt. Unten neben der Haustreppe sah sie eine Krähe, die auf etwas einhackte. Blut glänzte an ihrem schwarzen Schnabel. Graue, kleine Federn flogen umher. In ihren Krallen hielt sie eine Taube.
Leben und Tod, dachte Mara und rieb sich die Augen. Einen dicken Kopf hatte sie. Es war wohl etwas zu viel Merlot gewesen gestern Abend. Wie heißt es: Wer allein trinkt, schafft sich Feinde. Sie musste alleine trinken. Feinde hatte sie viele, wenn auch nicht in menschlicher Gestalt.
Sie ging duschen, ließ das heiße Wasser über ihren Körper strömen, wusch sich ihre Haare und pflegte sie mit einer Spülung. Sie rasierte sich die Beine, ihre Scham und die Achselhöhlen und cremte sich mit ihrer Lieblingslotion ein. Dann suchte sie für den frühlingshaften Tag eine passende Garderobe und entschied sich für eine frisch gewaschene Jeans und einen orangefarbenen Strickpulli ohne Ärmel, das Orange stand ihr gut. Jetzt fühlte sie sich schon besser.
Um Punkt fünfzehn Uhr drückte Mara die Klingel. Von drinnen schallte das Radio und sie hörte, wie Sonja von weiter weg rief: „Machst du mal auf!“
Es dauerte einen Moment bis die Tür geöffnet wurde. Aber es war nicht, wie Mara erwartet hatte, Annalisa, die öffnete und auch nicht der Philosoph vom Abend zuvor, sondern ein völlig anderer Typ, mit einem kleinen Ring im linken Nasenflügel und einem Spitzbärtchen am Kinn. So eine Art Zappaverschnitt, dachte Mara.
„Der sieht aber lecker aus“ lobte er mit Blick auf den Apfelkuchen und hielt ihr die Tür auf.
„Danke.“
Er roch frisch geduscht.
„Schade, dass ich nicht bleiben kann“ sagte er
und rannte pfeifend die Treppe hinunter. Mara betrat die Wohnung. Dabei trug sie ihren Kuchen vor sich her, als wäre er nicht nur eine Opfergabe an die Göttin der guten Nachbarschaft, sondern als wäre er eine Lösung, ein Heilmittel gegen all die einsamen Abende mit Wein und Fernsehen.
„Hallo, na, was machst Du gerade?“
„Ich mal’ ein Bild“, antwortete Annalisa und schaute Mara neugierig an.
„Darf ich es sehen?“ Annalisa schüttelte den Kopf.
Sonja kam aus dem Bad. Sie rubbelte sich ihre nassen Haare trocken und trat nur mit einem Bademantel bekleidet in den Flur.
„Wow! Hast Du den selbst gebacken? Komm, rein. Wir duzen uns, gell?“
„Ja, das fände ich auch angebracht“ stimmte Mara zu und folgte Sonja in die Küche.
„Annalisa würdest Du bitte den Tisch decken?“ Sonja setzte einen Kaffee auf.
Mara stellte den Kuchen auf den Küchentisch.
„Ich komm gleich, ich zieh mir nur noch was über.“
Mara trat auf den Balkon hinaus und setzte sich auf einen alten Klappstuhl. Er war das einzige Möbelstück am Rande eines Bergs von leeren Umzugskartons. Sie zündete sich eine Zigarette an. Neben dem Stuhl auf dem Boden stand ein überquellender Aschenbecher. Inzwischen war es richtig heiß geworden. Ein Tag, der nur danach rief, dass man etwas Schönes unternahm.
„Erstmal eine rauchen und dann ein Kaffee. Die Cocktails waren aber auch zu gut gestern Abend.“ Sonja stellte sich neben sie.
„Das hab´ ich heut´ Nacht mitbekommen. Ihr wart ja nicht zu überhören.“
„Oh, sorry“ entschuldigte sich Sonja.
„Wir waren auf einer Party von Freunden von Christoph. Eigentlich kannte ich keinen. Aber es war super. Wow! In einem alten Kellergewölbe im Stühlinger. Voll abgefahren. Tolle Deko. Irgendwann war es so voll, dass man sich fast nicht mehr bewegen konnte. Es waren so viele interessante Leute da. Und wo warst Du gestern Abend?“
Aus der Küche war das Zischen und Brausen der Kaffeemaschine zu hören.
„Der Kaffee ist fertig“. Mara drückte in dem übervollen Aschenbecher ihre Zigarette aus.
„Ich schneid´ schon mal den Kuchen an.“
„Ich will eine heiße Schokolade.“ Sonja setzte für Annalisa einen Topf mit heißer Milch auf. Kaum saßen sie mit Kaffee und heißer Schokolade und einem Stückchen von Maras Kuchenkreation auf den Tellern vor sich einträchtig am Küchentisch, als von irgendwoher aus der Wohnung das Telefon klingelte.
„Wer ist das denn?“ fragte Sonja.
„Geh hin und find's raus“, antwortete Mara und deutete mit dem Kaffeelöffel in die Richtung, aus der das Klingeln gekommen war.
Sonja stand auf und kam mit dem tragbaren Telefon zurück in die Küche.
„Ins Schwimmbad? Das ist eine gute Idee.“
Sie schlenderte in der Küche umher.
„Annalisa?“ Sonja betrachtete fragend ihre Tochter, die gerade von ihrer heißen Schokolade trank und sich mit der Zunge den Milch-Kakaorand von den Lippen wischte.
„Die kommt bestimmt gerne mit.“ Die Mutter schaute ihre Tochter immer noch fragend an. Endlich nickte Annalisa.
„Gut bis gleich.“ Sonja lächelte ins Telefon.
„Du kommst mit oder?“
„Wer ist denn noch da?“ wollte Annalisa erst mal klären.
„Klaus. Aber ist doch egal, wir gehen auf jeden Fall schwimmen.“
„Den mag ich nicht.“ Annalisa stocherte mit ihrer Gabel im Apfelkuchen herum. Es schien Mara, als hätte ihr die Aussicht auf einen Nachmittag mit Klaus den Appetit verdorben.
Sonja nahm einen Schluck Kaffee.
„Die große Frage ist, wo ich meinen Bikini habe. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihn hier, in dieser Wohnung, noch gar nicht gesehen habe.“
„Und fühlt Ihr Euch wohl hier?“