Was mich betraf, so taugte ich, durch meine begonnene Schulbildung zu einer halben Vornehmheit herangezogen, zu gar nichts mehr. Ich konnte nicht wieder auf den Pachthof zurückkehren, um wie eine Schäferin Marmontels in meinem himmelblauen Kleide und mit meinem großen Strohhut die Herde zu hüten. Man begann sich daher nach einem Unterkommen für mich umzusehen. Eines Morgens kam Dicks Schwester, Amy Strong, um mir zu melden, daß dieses Unterkommen durch ihre Mutter gefunden sei. Ich sollte nämlich als Kinderwärterin und Elementarlehrerin zu Mr. Thomas Hawarden kommen, welcher, ich weiß nicht warum oder wie, den Namen der Stadt trug, die er bewohnte. Er war ein Schwager des letzten alderman Bonbel und Vater des berühmten Chirurgen von Leicester Square.
Die Stellung, die man mir anbot, war allerdings weit entfernt, meinen ehrgeizigen Träumen zu entsprechen; ich mußte aber leben und hatte daher keine Wahl der Mittel. Man stellte meine Ausstattung aus den Trümmern der des Pensionats zusammen. Aus meinem himmelblauen Kleid ward ein gewöhnliches gefertigt, und da ich monatlich außer Kost und Wohnung zwölf Schillinge bekommen sollte, so erwartete man, daß ich durch angemessene Ersparnis die Mittel zur Vervollständigung meiner mangelhaften Garderobe erwerben würde. Es war eine große Demütigung für mich, wieder nach Hawarden in einer Eigenschaft zurückzukehren, welche mit der einer dienenden Person nahe verwandt war. Es war dies aber einmal eine Laune des Gottes Zufall, der es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, mich bald zu erhöhen, bald zu erniedrigen. Du bist Zeuge, mein Gott, daß jetzt, in einer Erniedrigung, aus welcher ich keine Aussicht mehr habe mich emporzuarbeiten, ich dich mit dankbarerem Herzen anflehe, als ich es von der Höhe meiner Größe getan!
3. Kapitel.
Am 20. September 1776 trat ich in Mr. Thomas Hawardens Dienst. Ich zählte damals zwölf bis dreizehn Jahre. Mr. Hawarden war ein Puritaner von altem Schrot und Korn, ernst und gerecht in allen Dingen. Seine Gattin war ihrerseits kalt und streng. Die Kinder, über welche ich Aufsicht führen sollte, waren die ihrer einzigen Tochter, welche während einer Reise des Vaters in Amerika an einer Brustkrankheit gestorben war. Es waren ihrer drei. Die beiden ältesten zählten vier und fünf Jahre. Das jüngste befand sich noch in den Händen der Amme. Eine große Pendeluhr schien die alles regelnde Gottheit des Hauses zu sein. Alle Sonnabende, wenn die Mittagsstunde schlug, ward sie aufgezogen und in Folge dieser Verrichtung, welche ich Mr. Hawarden auch nicht ein einziges Mal unterlassen sah, rollte die ganze Woche sich ab wie ein Räderwerk, das nicht weniger genau ineinandergriff wie das der Uhr selbst. Der Leser wird mich fragen, wer die Uhr an Mr. Hawardens Stelle aufzog, wenn dieser Sonnabends mittags nicht zu Hause war? Hierauf antworte ich, daß Mr. Hawarden, welcher wußte, daß er an diesem Tage diese wichtige Funktion zu verrichten hatte, Sonnabends um halb zwölf Uhr nach Hause kam, wenn er ausgegangen war, oder erst um halb eins fortging, wenn er auszugehen hatte. Während des ganzen Jahres, wo ich bei Mr. Hawarden war, sah ich ihn nicht einen Schritt schneller tun, als den andern, kein Wort lauter sprechen als das andere, nicht ein einziges Mal lächeln, nicht ein einziges Mal sich erzürnen, keine Gelegenheit zum Gutestun versäumen und nicht eine einzige Ungerechtigkeit begehen, wie unbedeutend dieselbe auch gewesen wäre. Mistreß Hawarden war buchstäblich der Schatten ihres Ehegatten. Sie kam mir vor wie eine jener Püppchen, welche an den Wettergläsern das schöne Wetter und den Regen anzeigen. Das Weibchen, welches hinter dem Manne herauskommt oder hineingeht, wiederholt alle Bewegungen, welche dieser ausführt. Sie spannt ihren Regenschirm auf, wenn er zum Zeichen des herannahenden Sturmes den seinigen öffnet, und macht ihn zu, sobald er durch das Schließen des seinigen die Rückkehr des Sonnenscheins verkündet.
Mr. Thomas Hawarden mußte reich sein, obschon ich während eines ganzen Jahres in seinem Hause kein anderes Silber sah als die zwölf Schillinge, welche ich allemal am Ersten des Monats um zwölf Uhr morgens mit der gewohnten Pünktlichkeit des Hauses von Mistreß Hawardens elfenbeinweißer Hand ausgezahlt erhielt. Das ganze Haus gehörte den beiden Gatten; von der einen Seite ging es auf die Hauptstraße der Stadt, von der andern auf einen Garten mit Gängen, die mit Meeressand bestreut waren, mit von Buchsbaum eingefaßten Beeten und pyramidenförmig zugestutzten Taxusbäumen. Ein Gärtner hatte diesen kleinen Garten in Ordnung zu halten, und nie sah ich darin ein abgestorbenes Blatt oder eine geknickte Blume. Die Kinder gingen darin spazieren, aber sie wußten, daß sie nicht das Recht hatten darin zu spielen, und daß es ihnen verboten war, die Blumen oder Früchte anzurühren. Im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr stand man auf. Um acht Uhr begab sich die ganze Familie, Herrschaft und Dienstleute, bis zu dem Säugling und seiner Amme, in ein Zimmer, wo eine Bibel mit stählernen Schließhaken auf einem Lesepult angenietet war. Mr. Hawarden schlug diese Bibel auf, las ein Gebet und seine Frau antwortete Amen. Dann schloß er die Bibel und man trat in das Speisezimmer, wo ein aus Milch, Butter und Eiern bestehendes Frühstück aufgetragen war. Eine große Teekanne, aus welcher jeder das Recht hatte, sich nach Belieben einzuschenken, obschon stillschweigend angenommen war, daß man dies nie mehr als zweimal täte, enthielt ungefähr ein Dutzend Tassen. Wir waren fünf Personen bei Tische. Mr. Hawarden, Mistreß Hawarden, die beiden Kinder und ich, die ich infolge meiner Funktion als Lehrerin das übrigens, wie mir schien, von den andern Dienstleuten nicht sonderlich beneidete Recht besaß, mit am Tische der Herrschaft zu speisen.
Wenn die Wanduhr jenes Ausheben hören ließ, welches dem Schlage der Stunde vorangeht, erhob sich alles, so daß nur selten jemand noch nicht aufgestanden war, wenn die halbe Stunde schlug. Schlag zwölf Uhr setzte man sich zur Mittagstafel nieder, mit Ausnahme Sonnabends, wo das Mittagsmahl sich um eine Minute infolge des Umstandes verzögerte, daß Mr. Thomas Hawarden erst seine Uhr aufziehen mußte. Das Mittagsmahl war, ohne luxuriös zu sein, doch gut und wohlschmeckend. Das gewöhnliche Getränk war Bier, jeder aber erhielt außerdem aus einer Flasche, welche für Mittags- und Abendessen ausreichte, ein kleines Glas Bordeauxwein, die Kinder bloß ein halbes Glas. Um fünf Uhr gab es Butterbrötchen oder Kuchen. Die Teekanne kam wieder zum Vorschein und lieferte ebenso wie beim Frühstück das einzige Getränk. Dieses Vesperbrot dauerte ebenso wie das Frühstück eine halbe Stunde. Um acht Uhr ward zu Abend gegessen. Diese Mahlzeit war so ziemlich eine Wiederholung des Mittagsmahles, ausgenommen, daß die Kinder ihr nicht beiwohnten. Diese bekamen um halb acht Uhr eine Butter- oder Honigsemmel, je nach ihrer Wahl, und um acht Uhr wurden sie zu Bett gebracht. Ich hörte sie nicht ein einziges Mal weinen, ausgenommen, wenn sie beim Fallen sich sehr wehe getan hatten.
Donnerstags nach dem Frühstücke wurde der Jagdwagen angespannt. Die Kinder, die Amme und ich stiegen hinein, und der Kutscher fuhr uns nach irgendeiner der Wiesen, welche sich in der Nähe der Stadt Hawarden befinden.
Nun hatten wir unser Fest. Die Last, welche in der eisigen Atmosphäre des Hauses unsere Brust bedrückte, hob sich wie durch die Sonnenstrahlen verflüchtigt. Sogar der Säugling in den Armen der Amme schien im Freien fröhlicher zu sein, als in der Stadt. Die Amme ging mit ihrem Pflegling spazieren. Die beiden anderen Kinder und ich sprangen im Grase herum, pflückten Blumen und verfolgten die Schmetterlinge. Die Kinder beteten mich an, weil ich ebenso Kind war als sie selbst.
Sonnabend nach dem Vesperbrot wartete der angespannte Wagen an der Tür. Alle Welt stieg hinein mit Ausnahme des Gärtners, welcher in seinem Gartenhäuschen blieb und das Haus bewachte, und man begab sich aufs Land. Mit diesem Ausdruck bezeichnete man ein ziemlich großes Haus, welches dritthalb Stunden von Hawarden, zwischen Chester und Flint an dem Ufer des Dee ungefähr eine Viertelmeile von der Stelle stand, wo dieser Fluß sich in das irische Meer oder vielmehr in den Golf ergießt, der damit in Verbindung steht. Man brauchte, um diesen Weg zurückzulegen, zwei Stunden zehn Minuten – niemals weniger und niemals mehr. Der Kutscher peitschte sein Pferd dreimal. Das erstemal beim Abfahren, das zweitemal auf der Hälfte des Weges, das drittemal bei der Ankunft in der Allee. Der erste Anblick des Meeres war für mich ein tiefergreifender. Obschon der Golf des Dee ziemlich schmal ist, so konnte man doch von der Höhe eines kleinen Berges am Horizont das hohe Meer entdecken. Ich streckte nach diesem unendlichen Raume meine Arme mit ebenso leidenschaftlicher Gebärde aus, wie ich es nach der Ewigkeit getan haben würde.
Der