Während der Priester diese sozusagen unwillkürliche Beaugenscheinigung vornahm, öffnete die Kranke wieder langsam die Augen und heftete sie mit dem Ausdrucke der Unruhe auf ihn. Es war, als suchte sie in dem Gesichte des Mannes, den sie hatte rufen lassen, um ihn zum Vermittler ihrer Versöhnung mit Gott zu machen, was sie wohl von der himmlischen Barmherzigkeit zu fürchten und zu hoffen habe. Der Priester war ein Mann von fünfundsechzig Jahren, mit einem sanften, ruhig heiteren, von spärlichem, dünnem weißen Haar beschatteten Gesicht. Man las in seinen Zügen die Einfalt seiner Seele und erkannte in seinem Blick einen Funken jener unaussprechlichen Liebe, welche Leonardo da Vinci in die Augen des Heilands gelegt hat. Die Kranke schien durch den Anblick des Priesters wieder ein wenig beruhigt zu werden. »Mein Vater,« sagte sie, »ich habe in allen heiligen Büchern gelesen, daß Gottes Barmherzigkeit unendlich ist; ich habe Sie aber holen lassen, um diese Worte nochmals aus dem Munde eines Dieners dieses Gottes selbst zu hören. Meine Sünden, meine Fehler, ja meine Verbrechen,« setzte sie, die Stimme senkend, hinzu, »sind so groß, daß, wenn ich nicht in Verzweiflung sterben soll, ich nicht weniger als des Wortes eines heiligen Mannes wie Sie bedarf.« – Der Priester betrachtete erstaunt diese Frau mit der sanften Stimme, dem offenen Gesichtsausdrucke und dem Auge, welchem selbst das Fieber, welches sie verzehrte, seinen engelgleichen Ausdruck nicht rauben konnte und die gleichwohl sagte, sie sei eine Verbrecherin. »Meine Tochter,« antwortete er, »die Todesangst verwirrt Ihre Sinne. Das Weib ist allerdings ein schwaches Geschöpf und durch ihre Stellung in der Gesellschaft der Gefahr ausgesetzt, Sünden und Fehler zu begehen; wenn ich aber recht verstanden habe, so klagen Sie sich an, nicht bloß Sünden und Fehltritte, sondern geradezu Verbrechen begangen zu haben.« – »Ja, Verbrechen, mein Vater, Verbrechen! O, ich weiß wohl, daß ein Held mich seine Geliebte und eine Königin mich ihre Freundin nannten, ich weiß wohl, daß in dem Enthusiasmus meiner Jugend, in dem Strudel meines Glücks ich meine Handlungen nicht so beurteilte. Seitdem aber er tot ist, seitdem sie tot ist, seitdem ich in Not und Elend geraten bin, und seitdem die Not, diese Rache des Himmels, mich zum Zweifel geführt hat – seit dieser Zeit sehe ich mich so wie ich bin, mein Vater, das heißt mit einem durch die Schwelgerei befleckten Körper und mit von Blut geröteten Händen.« – »Meine Tochter, die Barmherzigkeit des Herrn ist unendlich,« hob der Priester wieder an, »und Jesus verzieh im Namen seines Vaters der reuigen Magdalena ebenso wie der Ehebrecherin.«
Die Kranke streckte die Hand aus, legte dieselbe auf den Arm des Priesters, richtete sich empor, um sich ihm zu nähern, und fragte: »Würde er auch der Herodias verziehen haben?« – Beinahe mit Entsetzen bog der Priester sich zurück. »Wer sind Sie denn?« fragte er. – »Ja, in der Tat, Sie haben recht, mein Vater,« antwortete die Kranke, –»wenn ich Ihnen meinen Namen sage, so sage ich Ihnen damit alles. O entfernen Sie sich nicht von mir, wenn ich es Ihnen gesagt haben werde«,« setzte sie hinzu. – »Meine Tochter,« sagte der Priester, »selbst einen Vatermörder würde ich trösten und bis aufs Blutgerüst begleiten.« – »O, das Blutgerüst, das ist die Sühne!« rief die Kranke. »Wenn ich anstatt in meinem Bett auf dem Blutgerüst stürbe, dann würde ich nicht zweifeln.« – »Haben Sie denn einen Mord begangen?« fragte der Priester schaudernd. – »Nein, mein Vater, aber ich habe einen Mord begehen lassen.« – »Waren Sie sich dabei des Verbrechens bewußt, welches Sie begingen?« – »O nein, nein, ich glaubte dem König, ich glaubte Gott zu dienen; ich diente aber bloß meiner Rache. Wie wollen Sie, daß Gott mir verzeihe, mir, die ich nicht verziehen habe?« – Der Priester sah sie an. »Sie sind Engländerin?« fragte er dann. –»Ja, mein Vater,« antwortete die Kranke. – »Und Protestantin?« – »Ja.« – »Warum haben Sie aber dann nicht einen Geistlichen von Ihrer Religion holen lassen? Es gibt einen in Boulogne.« – »Ich weiß es.« – Die Kranke schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus. – »Nun und?« fragte der Priester wieder. – »Unsere Geistlichen sind zu streng, mein Vater. Unsere Religion ist zu schroff. Ich habe es nicht gewagt.« – »Es ist das ein großes Lob, welches Sie der unsrigen zollen, meine Tochter, da Sie aber diese Meinung von unserer Religion haben, warum haben Sie dann nicht schon längst im Schoße derselben Zuflucht gesucht?« – »Wenn sie mich nun zurückgewiesen hätte, mein Vater?« – »Unsere Religion weist niemanden zurück, meine Tochter. Sagte Jesus nicht zu dem guten Schächer: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, noch heute sollst du bei mir im Paradiese sein?« – »Der gute Schächer hing aber am Kreuze. Er starb mit dem Heiland.« – »Wer in ihm stirbt, der stirbt auch mit ihm und die Reue ist besser als das Kreuz. Bereuen Sie, meine Tochter?« – »O,« sagte die Kranke, indem sie beide Hände gen Himmel hob, »o, ich bereue aufrichtig und inbrünstig, das schwöre ich Ihnen.« – »Bereuen Sie bloß aus Furcht vor dem Tode?« – »O nein, mein Vater; ich bereue, weil mir, wie dem heiligen Paulus auf dem Wege nach Damaskus, die Schuppen von den Augen gefallen sind, und weil ich mich so sehe, wie ich bin.« – »Wohlan, Sie wissen, daß Gott dem heiligen Paulus nicht bloß verzieh, sondern auch einen seiner Apostel aus ihm machte. Dennoch hatte der heilige Paulus die Mäntel derer gehalten, welche den heiligen Märtyrer Stephan steinigten.« – »Wie gut sind Sie, mein Vater, daß Sie mich auf diese Weise ermutigen und trösten.« – »Das ist meine Pflicht, meine Tochter. Wenn ein Schaf trotz der Warnungen des Hundes sich eigenwillig von der Herde entfernt, dann nimmt der gute Hirt es auf seine Schultern und trägt es zurück in die Hürde. Wie weit mehr Grund hat er aber, es mit Freuden aufzunehmen, wenn es von selbst zurückkehrt. Sprechen Sie, erzählen Sie mir Ihre Fehltritte. Ich bin bereit, dieselben zu hören, und wenn dieselben die einem armen Priester erteilte Vollmacht nicht überschreiten, so werde ich sie Ihnen im Namen Gottes verzeihen.« – »Eine solche Erzählung würde lang und nutzlos sein. Mein Name wird genügen. Wenn Sie meinen Namen hören, so werden Sie alles wissen.« – Der Priester sah sie abermals mit Überraschung an. »Nun, dann nennen Sie mir Ihren Namen,« sagte er.
Die Sterbende neigte sich zu ihm und murmelte mit zitternder, kaum vernehmlicher Stimme die zwei Worte: »Lady Hamilton.« – »Dieser Name sagt mir nichts, meine Tochter,!« antwortete der Priester, »ich kenne denselben nicht, sondern höre ihn jetzt zum erstenmal.« – »O, mein Gott,« rief die Kranke fast mit dem Ausdruck der Freude, »dann gibt es also einen Menschen, der mich nicht kennt! Es gibt also einen Mund, der mir nicht geflucht hat?« Und sie sank, ein