6. Kapitel.
Mr. James Hawarden war nicht zu Hause, doch sollte er noch vor sieben Uhr zurückkommen und es war jetzt halb sechs. Man forderte mich auf, so lange zu warten. Ich bat Dick, in unser Gasthaus, welches nicht weit von Leicester Square entfernt sein konnte, zurückzukehren und mich in einer Stunde abzuholen. In der Tat lag Leicester Square am Wege und ungefähr auf der Hälfte von Oxfordstreet bis zur Themse, auf welche die Fenster unseres Zimmers gingen. Nach Verlauf einer halben Stunde hörte ich drei- oder viermal an die Tür pochen. Es war der Hausherr, welcher zurückkam und sich auf diese Weise ankündigte. Er trat in die Art Sprechzimmer, wo ich ihn erwartete, und obschon es mittlerweile beinahe Abend geworden war, so erkannte er mich doch sofort. »Ah, Sie sind es, mein schönes Kind!« sagte er zu mir mit einem Lächeln, welches einen gewissen Anflug von Wehmut hatte. »Ich dachte mir, als ich Hawarden verließ, wohl, daß ich Sie bald in London sehen würde.« – »Ist das ein Vorwurf, den Sie mir da machen, Sir?« fragte ich ihn. – »Nein, die Jugend ist abenteuersüchtig und die Schönheit hat ihre glücklichen oder verderblichen Geschicke, denen sie nicht entrinnen kann. Wollen Sie mit in mein Kabinett kommen? Dort können wir besser plaudern und ich vermute, daß Sie mir mancherlei mitzuteilen haben werden.« – »Wenn Sie die Güte haben wollen, mich anzuhören, ja, Sir.« – »Nun so kommen Sie, mein Kind.« – Mit diesen Worten ergriff er einen Armleuchter mit drei Kerzen und ging mir voran.
Wir traten in ein einfaches, aber zugleich elegantes Kabinett und nahmen darin Platz. – »Nun, Sie sind also da,« hob er dann an, »was gedenken Sie hier zu tun?« – »Sir,« sagte ich zu ihm, »als ich Sie fragte, ob Sie Mr. Romney kennten, und ich Ihnen sagte, er wäre mit einer der Pensionärinnen bei Mistreß Colman verwandt, belog ich Sie.« – Mr. Hawarden lächelte in eigentümlicher Weise. »Sie irren sich, Sir,« sagte ich errötend. »Ich habe Mr. Romney nur ein einzigesmal gesehen. Er war am Meeresstrande in Gesellschaft einer Dame, welche Miß Arabella hieß.« – »Ja,« sagte Mr. Hawarden, »man hat mir allerdings erzählt, daß er mit ihr herumstreicht.« – »Jetzt,« hob ich wieder an, »lassen Sie mich Ihnen die Wahrheit sagen.« – Ich erzählte ihm nun unsere Begegnung in allen ihren Einzelheiten, wie Miß Arabella mir ihre Adresse gegeben und welche Anerbietungen wir beide gemacht. Ich sagte ihm, ohne ihm etwas zu verschweigen, wie ich das Haus seines Vaters verlassen, wie ich nach London gekommen sei und welchen vergeblichen Besuch ich soeben in Oxfordstreet gemacht. Er ließ mich reden, dann sah er mich fest an, und faßte meine beiden Hände in die seinigen. »Mein Kind,« sagte er in sehr sanftem, aber zugleich gewissermaßen feierlichem Tone, »wenn man so alt ist, wie Sie und Ihre Schönheit besitzt, so gibt es zwei Wege, welche man im Leben verfolgen kann. Der eine führt einfach und gerade durch eine ruhige, eintönige Ebene und durch Ehe und Mutterschaft zu einem ehrenwerten und geehrten Alter. Der andere steigt bald, um die Aussicht auf einen glänzenden Horizont zu gewähren. Bald senkt er sich und führt durch schmutzige Moräste. Schlägt man diesen Weg ein, so erlangt man das Ziel des Lebens in drei Stationen. Die erste heißt Stolz, die zweite Reichtum, die dritte Schande. Sie stehen jetzt an dem Scheidepunkte dieser zwei Wege. Wissen Sie, welchen Sie wählen werden?« – »Ach, Sir, können Sie mich das fragen?« – »Ja, mein Kind, ich kann und muß Sie fragen, denn, bemerken Sie wohl, ich bin nicht bloß Sittenprediger, sondern auch, und zwar vorzugsweise, Philosoph. Nun glaube ich nicht, wie gewisse absolute Geister behaupten, daß der Mensch vollkommen seinen freien Willen habe. Ich glaube an die unwiderstehliche Macht der Materie über die Seele noch mehr als an die absolute Herrschaft der Seele über die Materie. Wenn Sie auch den geraden und einfachen Weg einschlagen, so werden doch bald die Dunkelheit der Nacht, bald der Rausch der Sinne Sie davon hinwegleiten. Gute Ratschläge und ein guter Führer werden Sie wieder auf den geraden Weg bringen. Ich werde, wenn Sie wollen, dieser Ratgeber und dieser Führer sein; es liegen aber in gewissen Organisationen gewisse Urbedingungen, über welche weder Ratschläge noch Beispiele zu triumphieren vermögen. Diese eigentümlich geschaffenen Organisationen stößt die Gesellschaft von sich, das Gesetz straft sie, die Wissenschaft aber beklagt sie und spricht sie zuweilen von aller Schuld frei. Dennoch aber ist es immer besser, wenn man den guten Weg einschlägt, als wenn man den schlimmen wählt. Es ist schon eine Gnade der Vorsehung, daß Sie jene Dame nicht zu Hause angetroffen haben. Wollen Sie mir versprechen, freiwillig nicht wieder zu ihr oder zu Mr. Romney zu gehen, so will ich mich dann in allem Ernste mit Ihnen beschäftigen.« Ich schwieg. »Sie zögern?« sagte er. – »Nein, Sir,– aber ich hatte mich goldenen, melodischen Träumen hingegeben. Man hat mir so oft gesagt, daß ich, wenn ich nach London käme, mein Glück machen würde, und ich bin hierhergekommen, ohne mich weiter zu fragen, auf welche Weise dieses Glück sich mir bieten würde. Verlange ich zu viel, wenn ich Sie bitte, mir fünf Minuten Zeit zu lassen, damit ich erst diese Träume aus meinen Gedanken verbannen kann?« – »Armes Kind!« murmelte der Arzt. Ich saß eine Weile stumm und gedankenvoll da. Ich fühlte seinen Blick auf mich geheftet. Es war mir, als dränge dieser Blick mir bis in die innerste Seele und verliehe derselben eine Willenskraft, die ihr bis dahin unbekannt gewesen.
»Sir,« hob ich nach Verlauf von einigen Augenblicken wieder an, »ich verspreche Ihnen, weder Miß Arabella noch Mr. Romney wiederzusehen zu suchen. Ich verspreche Ihnen, nicht zu diesen Personen zu gehen, aber – aber wenn dieselben zu mir kommen, wenn ich ihnen begegne, ohne sie zu suchen, dann verspreche ich Ihnen nicht, daß ich die Kraft haben werde, der Versuchung zu widerstehen.« – »Sie werden getan haben, was Sie gekonnt,« antwortete Mr. Hawarden, »und mehr kann man von einer Tochter Eva's nicht verlangen.« In diesem Augenblick ward zweimal an der Tür gepocht. Diese beiden Schläge verrieten die untergeordnete Stellung des Pochenden. Ich erschrak. »Was ist Ihnen?« fragte mich der Arzt. – »Sir,« sagte ich zu ihm, »wahrscheinlich ist es Dick, der Bruder meiner Freundin Amy Strong, welcher mich abholen will. Wenn Sie aber wollen, daß ich Ihre guten Ratschläge befolge, so lassen Sie mich nicht zu meiner Freundin zurückkehren. Sie ist es, die mich mit nach London gelockt hat, und wenn ich zu Grunde gehe, so ahne ich, daß es durch sie geschehen wird.« – »Gut. Sagen Sie, Sie blieben diese Nacht bei mir, und ich behielte Sie