»Du meinst, kurz bevor du Rage seine Innereien als Kette um den Hals gehängt hast, hat er kein Wort über die kleine Lady gesagt?«, fragt Will mit scharfem Tonfall und verzieht mahnend das Gesicht. »Ja, das klingt für mich auch so, als wollte er sie um jeden Preis schützen. Scheint, als wäre sie Sherwood wichtig. Hätte nicht gedacht, dass das Arschloch zu tiefen Gefühlen in der Lage ist.«
Ich werfe Raven einen flüchtigen Blick zu, als sie leise aufkeucht. Sie macht erschrocken mehrere Schritte von mir weg und leckt sich nervös über die Lippen. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet, dass ich wirklich Menschen töte und nicht nur damit drohe. »Ich kannte Rage, ich mochte ihn. Und du hast ihn getötet?«, will sie ungläubig wissen.
»Tut mir leid, dass du ihn kanntest. Klingt vielleicht wie eine hohle Entschuldigung, aber er war dabei, als dein Vater meine Mutter ausgeweidet hat. Er hat nichts getan, um sie zu schützen, also musste er sterben«, stoße ich hart aus und habe Mühe, meine Abscheu zu verbergen. Rage war nicht anders als sein Bruder: unbarmherzig, grausam, hart. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt, auch wenn er kein Grim Wolve war. Deswegen habe ich kein schlechtes Gewissen. Auch Raven kann mir das nicht machen.
»Ich glaub dir dein Mitleid nicht«, antwortet sie mit verbissenem Gesichtsausdruck.
»Ich hab dir nie verheimlicht, wer ich bin«, entgegne ich kalt. Aber um ehrlich zu sein, spüre ich doch einen leichten Anflug von Mitleid für Raven, weil sie jemanden verloren hat, den sie wohl mochte. Mitleid mit Rage habe ich trotzdem nicht. Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer, ihn mir anders als brutal und voll von Hass vorzustellen. Dass er es vielleicht doch war, überrascht mich.
Raven senkt den Blick und murmelt ein paar unflätige Beleidigungen, danach zieht sie sich noch ein Stück vor mir zurück. Irgendwie stört mich das, aber ich versuche nicht, darüber nachzudenken und wende mich wieder Will zu. »Es war nicht einfach, ihn zum Reden zu bringen.«
»Ja, deswegen hat er dir auch nur gesagt, was du hören wolltest und die Kleine verheimlicht. Er hatte wohl die Hoffnung, dass du nicht genauer hinschaust, wenn du Sherwoods Stoßdame besuchst.«
Ich reibe mir über das Kinn. Da erzählt Will mir nichts Neues. »Rage war eben bis zum letzten Atemzug ein loyaler Drecksack.«
»Und jetzt? Wie soll es weitergehen?«, drängt Will mich weiter.
»Hast du was über White Horse rausgefunden? Stimmen die Gerüchte?«
Will seufzt und nickt. »Er soll noch immer in Pine Ridge leben. Wenn du Sam in Sicherheit wissen willst, solltest du ihn dorthin bringen, schließlich hat der alte Mann es geschafft, sich mehr als zehn Jahre vor euch Jägern zu verstecken.« Er holt tief Luft und wirft einen flüchtigen Blick auf Raven, bevor er mich wieder ansieht. »Unser ursprünglicher Plan war gut.«
»Das Reservat ist riesig, es gibt viele Orte, wo er sich verstecken könnte. Wenn du nicht mehr weißt, wird es schwierig.«
»Ich schaffe das schon«, stößt Will düster aus. »Du erledigst deinen Teil, ich meinen. Ich bringe Sam weg und du führst die Jäger auf eine falsche Spur.« Will zieht eine blonde Braue hoch. »Wütend genug ist er bestimmt, wenn er erfährt, dass du die Kleine bei dir hast.«
Ich sehe Raven an. Sie steht neben dem Sofa, jeder Muskel ihres Körpers ist angespannt und ihr Gesicht drückt nichts als Kälte aus. Trotzdem reicht nur ein Blick in ihre Augen und ich weiß, dass es hinter ihrer Stirn arbeitet. Mit ihr habe ich jetzt etwas in der Hand, das es mir ermöglicht, Sherwood zu erpressen. »So schnell sollte er nicht davon erfahren. Gib uns ein paar Tage, um alles vorzubereiten. Wir brauchen einen Plan. Wenn du und Sam nach Pine Ridge geht, brauche ich eine Idee, wohin ich Sherwood und die Jäger locken werde. Und ich brauche einen Ort, wo ich mich ihnen stellen werde, um zu verhandeln. Wenn wir alles vorbereitet haben, werde ich Sherwood eine Nachricht zukommen lassen und ihm erklären, dass ich seine Tochter habe.«
Ich sehe Sam ernst an. »Sobald alles steht, gehst du mit Will«, richte ich mich an Sam.
Sam runzelt die Stirn. Ich sehe sofort, wenn diese Wut in ihm hochkocht, die er schon seit Jahren empfindet. Sie scheint stets unter der Oberfläche zu lauern. Sam war immer schon anders als ich. Unkontrollierter, aufbrausender. Immer schon zornig, selbst dann, wenn es keinen Grund zu geben schien. Er hat Sherwood viel weniger als Vater gesehen als ich und ihm immer wieder die Stirn geboten. Manchmal so schlimm, dass ich mich zwischen die beiden stellen musste, damit Sherwood ihn nicht umbringt. Bis zuletzt hat Sherwood es nicht geschafft, aus Sam einen so gehorsamen Jäger zu machen wie aus mir. Heute bewundere ich Sam dafür. Früher habe ich ihn als Ärgernis gesehen, das Schuld an so mancher Prügel war, die ich bezogen habe.
»Ich bleib hier bei dir«, sagt er trotzig.
»Tust du nicht. Ich kann nicht auf dich aufpassen und mich von Sherwood jagen lassen. Ich muss wissen, dass du sicher bist.«
Sam schnaubt. »Bullshit. Du willst wissen, dass ich sicher verwahrt bin für den Fall, dass der Drecksack dich wie Mom und Dad umbringt. Dich kenne ich wenigstens, aber dieser Mensch, zu dem du mich abschieben willst, ist ein Fremder.« Er dreht sich um und geht wieder zurück in die Küche.
Ich verziehe das Gesicht, weil er recht hat. Ich reibe mir erschöpft über die Wangen. »Tut mir leid, aber es ist nur bis ich mit Sherwood einen Deal aushandeln konnte«, werfe ich ein. »Solange sie bei mir ist, wird mir nichts passieren.«
»Wenn sie ihm wichtig genug ist, dann könnte das funktionieren«, wirft Will ein. »Du kennst Sherwood besser als jeder andere, du weißt, dass er ein durchgeknallter Psychopath ist, der eigentlich nichts außer sich selbst liebt.«
Raven stößt ein dumpfes Lachen aus und fährt sich kopfschüttelnd durch die Haare. »Es wird nicht funktionieren. Ich hab es Ice schon gesagt, mein Vater und ich haben keine Verbindung. Er war so gut wie nie da. Und wenn, war er das Arschloch, als das ihr ihn auch kennt.« Raven ist ganz still geworden in den letzten Minuten, jetzt lächelt sie, als wäre sie zufrieden mit dem, was sie aus unserem Gespräch gelernt hat. Ihre Hand streichelt weiter den Kopf des Hundes, aber ihr Blick ist auf die Haustür gerichtet, als überlege sie, wie hoch ihre Chancen stehen, das Haus verlassen zu können, bevor ich sie zurückhalten kann. Ich könnte ihr jetzt erklären, wie schlecht ihre Chancen stehen würden, dort draußen einem anderen Menschen zu begegnen. Der Fußmarsch in die nächste Stadt würde die ganze Nacht dauern. Immer entlang einer stockfinsteren Straße, stundenlang durch absolute Dunkelheit. Aber ich schweige. Stattdessen tue ich so, als hätte ich ihren Blick nicht bemerkt.
»Ich schau mal, ob ich Sam in der Küche helfen kann«, schlägt Raven vor. »Ich muss mir nicht länger anhören, wie ihr über mich redet, als wäre ich irgendein Gegenstand.«
Ich ziehe grinsend eine Augenbraue hoch, denn ich bezweifle, dass sie Sam wirklich in der Küche helfen will, immerhin steht er im Durchgang zur Küche und ist gerade nur damit beschäftigt, Will und mir zornige Blicke zuzuwerfen. »Sultan, Tür«, sage ich leise und emotionslos zu dem Schäferhund, der sich sofort zur Tür begibt und sich aufmerksam davorsetzt. Sobald Raven sich ihm nähert, knurrt er düster und so gefährlich, dass sogar ich mich innerlich anspanne.
Raven wirft mir einen verhassten Blick zu.
»Hast du geglaubt, ich würde dich entkommen lassen? Du hast doch gehört, wir brauchen dich.« Ich erhebe mich langsam vom Sofa und fange die Handschellen mit einer Hand auf, die Will mir zuwirft.
Raven geht mit geweiteten Augen rückwärts und hebt beschwichtigend die Hände. »Keine Handschellen«, fleht sie unglücklich und geht immer weiter rückwärts, um mir zu entkommen.
Ich habe es nicht eilig, ihr zu folgen und lasse mir Zeit. Das Haus ist winzig, nur noch ein paar Schritte und sie steht in der Küche. Ich werfe Sultan nur einen flüchtigen Blick zu, mehr braucht es nicht, und er stellt sich hinter Raven und knurrt, um sie davon abzuhalten, weiter vor mir zu fliehen. »Bleib einfach stehen, Süße.