Raven verzieht abfällig das Gesicht, aber in ihre Wangen steigt eine Hitze, die meinen Puls beschleunigt. Ich verstecke meine Reaktion hinter meiner Kaffeetasse, tanke zügig große Schlucke und weiche ihrem Blick aus. Als es an der Tür klopft, bin ich froh, dass mir das einen Grund gibt, die Küche zu verlassen. »Sitzenbleiben«, knurre ich Raven an, als gäbe es irgendeine noch so winzige Möglichkeit, dass sie dieses Knurren als das versteht, was es ist: ein Befehl.
»Will«, begrüße ich meinen Onkel, trete zur Seite und lasse ihn ins Wohnzimmer.
»Für euch.« Will drückt mir eine Tüte mit weiteren Lebensmitteln in die Hand und wirft einen Blick an mir vorbei. »Wo ist sie?« Auf seine Lippen tritt ein vielsagendes Grinsen. Er schiebt sich an mir vorbei, tätschelt Sultans Kopf im Vorbeigehen und bleibt im Türrahmen zur Küche stehen. »Guten Morgen, wie geht es heute? Wie war die Nacht?« Er hüstelt und sieht mich über die Schulter zurück an.
»Du blockierst die Tür«, stoße ich genervt aus, die Papiertüte noch immer in den Armen. Will weicht in die Küche aus und lässt mich an sich vorbei.
»Die Matratze war so … unbequem wie der Gastgeber«, sagt Raven und sieht mich mit wütend funkelnden Augen an. Sie steht vom Tisch auf und stellt ihr Geschirr in die Spüle. Ihr Blick geht nach draußen, wo hinter dem Haus in etwa 500 Metern der Wald beginnt, in dem Sam gerade verschwunden ist.
»Sie macht sich Sorgen um Sam. Der war heute Morgen etwas angespannt«, erwähne ich und beginne damit, die Tüte auszuräumen.
Will brummt düster. Seine Stirn ist in Falten gelegt und er mustert Raven mit einem Blick, der mich nervös macht. Ich kann fühlen, dass sich etwas an Wills Haltung verändert, sich jeder Muskel in seinem Körper anspannt, als wäre er in Alarmbereitschaft. Als er seine Hände zu Fäusten ballt und mir einen Blick zuwirft, der so zornig ist, dass mich ein warnender Schauer durchläuft, werde ich nervös und lege die Packung Frühstücksspeck, die ich eben in den Kühlschrank legen wollte, zurück auf den Tisch. Ich habe Will schon wütend erlebt, aber in seinem Blick liegt viel mehr als Wut. Er ist entsetzt. Etwas stimmt ganz und gar nicht und ich weiß nicht, was es ist.
»Was ist los?«, will ich wissen und runzle verwundert die Stirn. Das Tier in mir fühlt sich so sehr alarmiert, es will sich schützend vor Raven stellen, obwohl Will niemals eine Gefahr für sie sein könnte, solange er das Moonshine nimmt, das Sherwood allen Abtrünnigen aufzwingt. Ich strecke trotzdem meine Nackenmuskeln, meine Finger und Arme und fühle, wie sich Schauer über meinen Rücken wälzen. Der Wolf in mir ist bereit, sich auf Will zu stürzen, um Raven zu retten.
»Komm sofort mit«, brüllt Will mich wütend an.
Ich sehe zu Raven, die sich mit geweitetem Blick zu uns umsieht und runzle die Stirn. »Was soll das, Will? Du musst besser aufpassen, wenn Sherwood mitbekommt, dass du das Moonshine nicht nimmst, wird er dich umbringen.«
»Hier geht es nicht um das verdammte Moonshine. Außerdem nehme ich es und bestehe jeden Test, dem seine Jäger mich unterziehen. Du solltest das wissen«, wirft er mir vor.
Ich bin einer dieser Jäger und ich weiß es besser. Trotzdem mache ich mir Sorgen um Will, denn er wird seine Kleinstadt niemals verlassen. Er liebt sein menschliches Leben, das er sich hier aufgebaut hat, weil es weit weg von den Kriegen ist, die unser Leben beherrscht haben. Sollte er sein Moonshine nicht nehmen und sich nicht regelmäßig auf der Farm melden, um neues zu bekommen und sich überprüfen zu lassen, wird der nächste Jäger, der vorbeikommt, ihn töten. Aber selbst, wenn er aus der Stadt flüchten würde, früher oder später, finden die Jäger jeden flüchtigen Abtrünnigen. Sherwood lässt keine Verletzung der Regeln zu, er will immer über jedes Mitglied des Clans die volle Kontrolle. Über kurz oder lang geben die meisten Abtrünnigen auf und schließen sich der Farm an, weil der Druck, den Sherwood und seine Jäger ausüben, zu groß wird. Weswegen es ohnehin nur noch wenige Abtrünnige gibt, die außerhalb der Farm leben.
Will kneift die Augen zusammen, fährt sich durch die Haare und wendet sich von Raven ab. »Sieh zu, wir müssen reden«, flüstert er wütend. Ich verstehe nicht, was ihn plötzlich so aufgebracht hat.
»Was soll das?«, schreie ich Will draußen vor dem Haus an und lasse die offen stehende Tür hinter ihm nicht aus den Augen.
»Konzentrier dich«, knurrt Will. »Willst du mir erzählen, dass du es nicht mitbekommen hast?«
»Was mitbekommen?« Ich sehe ihn ratlos an.
Will schüttelt den Kopf und reibt sich lachend über seine Wangen. Er sieht zur Haustür und schüttelt noch einmal den Kopf. »Hol Luft«, verlangt er. »Konzentrier dich auf ihren Geruch.«
Raven bleibt im Türrahmen stehen, sie beobachtet uns, ihre Hand liegt auf Sultans Rücken, der seinen Körper vor ihre Beine geschoben hat, um sie nicht aus dem Haus zu lassen. Sein Blick ruht aufmerksam auf mir. Es braucht nur ein Zeichen von mir, und er würde seine Zähne in Ravens Fleisch vergraben, um zu verhindern, dass sie entkommen kann. Trotzdem lasse ich sie nicht aus den Augen, denn sie wird auf keinen Fall dieses Haus verlassen. Nicht, solange ich sie brauche. Nicht, solange ich sie hier bei mir haben will.
»Ich weiß nicht, was du willst. Was ist denn los mit dir? Was macht dich so wütend?«, fahre ich ihn fassungslos an. Gestern Abend war alles noch in Ordnung und plötzlich führt er sich auf, als wäre Raven eine Kriminelle.
Will stöhnt genervt. »Streng dich an. Konzentriere dich darauf, wie sie riecht. Und dann sag mir, dass hier nicht irgendwas verdammt falsch läuft.«
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf nichts anderes, als auf sie. Ich atme ihren Duft ein, der seit vergangener Nacht auch auf meiner Haut klebt, obwohl ich versucht habe, ihn unter der Dusche loszuwerden. Sie riecht noch immer fruchtig-süß, sommerlich, aber die erdige Note, die ich schon vorher schwach bemerkt habe, ist jetzt deutlich stärker hervorgetreten. Sie dominiert ihren ursprünglichen Geruch, überlagert ihn. Es ist diese Note, die an mir zerrt und mir das Gefühl gibt, meinen Verstand zu verlieren, wenn ich sie nicht verschlingen kann. Wenn ich sie nicht sofort besitzen kann.
Ich balle meine Hände, als eine weitere Welle Gefühlschaos mich trifft und sich das Raubtier gegen meinen Willen wirft, um aus seinem Gefängnis ausbrechen zu können. »Was hat das zu bedeuten?«, stoße ich unbeherrscht aus, ohne den Blick von Raven zu nehmen, die mich noch immer fixiert. Selbst von hier aus kann ich sehen, dass sich ihr Brustkorb unter schweren Atemzügen hebt und senkt. Auch sie kämpft gegen einen unsichtbaren Feind an.
»Sie verwandelt sich«, sagt Will mit unterdrückter Stimme. »Sie ist eine von uns, was eigentlich unmöglich sein sollte.«
Ich versuche, mich auf Will zu konzentrieren, aber es fällt mir schwer, mich von Raven zu lösen. All meine Instinkte fordern, sie von Will wegzuschaffen. Mich mit ihr allein irgendwo zu verschanzen und keinen anderen Mann in ihre Nähe zu lassen. Ich sehe Will an, der die Arme vor der Brust verschränkt und eine Augenbraue hochzieht, als er bemerkt, dass jeder Muskel meines Körpers zittert.
»Du hast ein verdammt großes Problem, mein Junge, und du weißt es noch nicht einmal. Aber ich freue mich, dir dabei zusehen zu dürfen, wie du es herausfindest.«
»Dass sie eine Wölfin ist?«, will ich verwirrt wissen.
»Nein, das ist offensichtlich«, antwortet er. »Das meine ich nicht, aber du wirst es früh genug kapieren. Wenn sie die Wandlung überlebt.«
Ich schüttle den Kopf, und ignoriere Wills verwirrende Andeutung. Viel wichtiger ist, wie das alles hier überhaupt passieren kann. »Wie kann sie eine Wölfin sein? Sherwood ist ein Halbblut. Seine Exfrau ist ein Mensch. Wir bekommen keine Kinder mit Menschen. Ein Halbblut kann nur menschliche Kinder zeugen.«
»Haben wir gedacht, aber wir haben auch gedacht, ein Gebissener könnte niemals Alpha sein.« Will zuckt mit den Schultern, aber seiner verstörten Grimasse kann ich deutlich ansehen, dass er so wenig begreift, was hier passiert wie ich. »Ich weiß es nicht, aber das Arschloch hat es geschafft. Seine Tochter ist eine Wölfin.«
»Noch ist sie keine Wölfin.