Ich sollte lieber daran arbeiten, diesem Arschloch zu entkommen. Und alles zurücklassen, was ich noch besitze? Das Auto, meine Tasche mit dem Geld? Wohin will ich dann noch gehen? Welchen Nationalpark noch durchwandern? Ich fahre mir durch die Haare und ärgere mich schon wieder über mich. Natürlich sollte ich alles zurücklassen. Die Hauptsache ist doch, dass ich meinen eigenen Arsch rette. Ich sehe mich auf dem Parkplatz um, aber es ist niemand hier, in dessen Arme ich mich retten könnte. Die meisten sitzen in dem Diner, ich kann sie durch die Scheiben hindurch sehen. Vier Männer und die Bedienung, die in diesem Augenblick einem Mann mit Basecap einen Teller vor die Nase stellt. Mein Magen knurrt laut, als ich sie dabei beobachte. Ich hatte geplant, auf meiner Reise nur morgens etwas zu essen, um Geld zu sparen. Ich wäre jetzt also hungrig schlafen gegangen. Aber das hätte mir nichts ausgemacht, meine Mutter hat selten daran gedacht, dass ein Kind auch essen muss. Was sie nie vergessen hat, war der nächste Schuss und der nächste Fick, der ihren Schuss finanzieren würde.
»Willst du dort noch lange rumstehen?« Seine Stimme direkt über meinem Kopf lässt mich zusammenzucken. Er hat das Fenster heruntergelassen und beugt sich nach draußen, in der Hand die Pistole, deren Lauf sich auf mich richtet. »Ich muss nur abdrücken, den Motor starten und bin weg. Und niemand wird jemals herausfinden, wer dich mitten in der Nacht auf einem Parkplatz vor einem Scheißmotel abgeknallt hat.«
»Die Kamera wird es wissen«, sage ich bissig und deute auf eine Kamera über der Eingangstür, die sich leise surrend in Richtung des Pick-ups bewegt.
»Gutes Argument, aber hast du die Bilder mal gesehen, die die machen? Nicht einmal meine Mutter hätte mich darauf erkannt.« Er grinst mich so breit an, dass ich seine Zähne im Licht der Beleuchtung aufblitzen sehen kann. »Los jetzt, ein Zimmer. Und wehe, du versuchst was.«
Meine Muskeln verspannen sich, als ich der eiskalten Härte in seinem Gesicht begegne. Ich will auf keinen Fall daran schuld sein, wenn heute Nacht Menschen sterben müssen. Ich käme vielleicht damit klar, wenn ich sterben müsste. Aber ich möchte nicht schuld am Tod anderer sein. Ich wende mich dem Check-in zu. Die Frau hinter dem Tresen konzentriert sich längst wieder auf ihren Fernseher. Wahrscheinlich fragt sie sich nicht einmal, warum ich so lange hier draußen herumstehe.
Es kostet mich einiges an Überwindung, den ersten Schritt zu machen, meinen Fuß vom Boden zu lösen und meine steifen Muskeln zu bewegen. Aber das dunkle Knurren, das aus dem Hals von Ice grollt, bringt mich doch dazu, endlich loszugehen. Welcher normale Mensch knurrt wie ein Hund? Aber Ice ist ja auch kein Mensch, er ist ein Entführer. Vielleicht sogar ein Mörder, wenn stimmt, was er sagt. Und ich glaube ihm nur zu gern, denn er strahlt manchmal so eine Kälte aus, die sich mir bis in die Knochen frisst. Eine Kälte, die jemand, der höchstens Mitte zwanzig ist, nicht haben dürfte. Ich öffne die Tür zu dem kleinen Raum, der fast komplett von einem abgewirtschafteten Tresen eingenommen wird. Über meinem Kopf ertönt das leise Klingeln einer Glocke. Die ältere Dame schaut missbilligend zu mir, steht von ihrem Stuhl auf und sieht mich abwartend an.
Ich öffne den Mund und ringe mit mir, ein Teil möchte so gerne das Wort ›Hilfe‹ herausschreien, aber der andere hat Angst vor dem, was Ice der Frau dann antun könnte, also gehe ich mit unsicheren Schritten zum Tresen und kämpfe mit dem Kloß in meiner Kehle, weil ich keinen Zweifel habe, dass Ice sie töten würde. Immerhin gucke ich Fernsehen und mache mir nicht allzu viel vor über Motorradgangs.
»Ein Zimmer für zwei«, sage ich heiser, obwohl alles in mir mich drängt, loszulaufen und mich in Sicherheit zu bringen. Direkt neben ihr steht ein altes Telefon, dessen Tasten mich regelrecht anschreien, die 911 zu tippen. Meine Finger zucken und mein Körper fühlt sich so sehr von diesem Telefon angezogen, dass alles in mir vibriert. Aber der Bann wird unterbrochen, als die Frau sich vernehmlich räuspert.
»Für wie lange?«, will sie genervt wissen. »Du musst schon mit mir reden, Mädchen.«
Ich blinzle verwirrt. »Eine Nacht, nur eine Nacht.«
Sie beugt sich über ihre Tastatur. »Ich nehme an, du bist volljährig? Wenn nicht, zahlst du bar«, murmelt sie dem Monitor zu, dessen blaues Licht sie ganz blass erscheinen lässt.
»Bar«, sage ich eilig, werfe einen Blick nach draußen, wo ich Ice als dunklen Schatten vor der Tür stehen sehen kann. Er starrt hier rein und wartet nur darauf, dass ich einen Fehler begehe. Ich sehe die Frau wieder an, die mir ihre Hand entgegenstreckt.
»Dein Name und das Geld«, sagt sie.
Für eine Sekunde erwäge ich, ihr einen falschen Namen zu nennen, offensichtlich verlangt sie keinen Ausweis von mir. Aber wen will ich damit schützen? Ice? Nein, sollte er mir etwas antun, dann könnte mein richtiger Name ein nützlicher Hinweis für die Polizei sein. Ich sage ihr, wie ich heiße und sie nickt nur, hält weiter ihre Hand in meine Richtung, also gebe ich ihr etwas Geld, sie zählt es nicht ab, obwohl ich mir sicher bin, dass ich zu viel gezahlt habe. Stattdessen steckt sie alles in die Kasse und gibt mir den Schlüssel.
»Die 14«, erklärt sie, dann wendet sie sich ab und setzt sich wieder auf ihren Stuhl vor den TV. »Das Diner hat 24 Stunden auf.«
Ich starre sie mehrere Sekunden lang an und überlege, welches unauffällige Zeichen ihr klarmachen könnte, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Ich versuche abzuwägen, wie hoch das Risiko ist, dass Ice seine Drohung wahr macht. Mein Puls rast, während ich darüber nachdenke, aber am Ende lasse ich die Schultern sinken und wende mich ab. Ich könnte nicht mit dem Gedanken leben, schuld am Tod eines Menschen zu sein. »Danke«, bringe ich mühsam heraus, warte, ob sie mich noch einmal ansieht, so als kleines Zeichen vom Schicksal, aber da reißt Ice schon die Tür von außen auf.
»Kommst du, Schatz?«, fragt er mit zuckersüßer Stimme und grinst mich diabolisch an. Seine hellen Augen funkeln im Neonlicht über der Tür.
Ich wende mich noch einmal der Dame zu, die nicht einmal aufgeblickt hat, als die Türglocke Ice angekündigt hat. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er mit dem Kopf schüttelt, also atme ich tief ein, setze ein Lächeln auf und gehe auf ihn zu. »Aber sicher, Schatz«, sage ich und wackle mit dem Hotelschlüssel, als wäre er die bedeutendste Errungenschaft in meinem Leben.
Ice legt eine Hand auf meinen Rücken, dann bugsiert er mich zurück zum Pick-up, zwingt mich in den Wagen und wirft mit wutverzerrtem Gesicht die Tür zu. Sein Blick ist noch wütender, als er auf der Fahrerseite einsteigt. »Du solltest mich nicht dazu bringen, etwas zu tun, das du später bereust.« Er startet den Pick-up, ohne mich anzusehen, aber das zornige Schnauben, das er ausstößt, genügt mir, um mich ängstlich in meine Ecke zurückzuziehen. »Zimmernummer?«
»14«, sage ich leise und umklammere den Schlüssel, als wolle ich ihn als Waffe benutzen. Aber das würde ich nicht wagen. Zu versuchen, ihn mit so einer ungeeigneten Waffe zu besiegen, wäre ein dummer Fehler. Und ich bin nicht dumm. Ich weiß sehr gut, dass ich ihm körperlich unterlegen bin. Ich kann ihm nur entkommen, wenn ich ihn überrasche. Ich muss ihn kalt erwischen. Wenn ich überhaupt eine Chance haben will, dann muss ich Geduld haben und clever sein. Cleverer als er.
Ice fährt den Wagen über den Parkplatz und hält vor der 14. Ich rolle innerlich die Augen, als ich sehe, dass die 14 zwischen der 12 und der 15 liegt. Eigentlich ist die 14 also die 13. Wie passend für mich. Glauben die Leute wirklich, wenn sie die 13 auslassen, dadurch das Böse vielleicht davon abzuhalten, das Zimmer 13 zu finden? Das Böse ist bestimmt nicht zu dumm zum Zählen. Mein Entführer und ich werden die Nacht also in Zimmer 13 verbringen. Vielleicht findet die ältere Dame dort morgen früh eine Leiche. Vorzugsweise nicht meine.
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