2. Kapitel: Sonnensee
Vigor öffnete die Augen. Er war seitlich mit dem Kopf gegen eine Kiste gestoßen, an die er gelehnt war. Sein Kinn ruhte auf dem weißen Hemd vor der Brust und er betrachtete die weiß-grauen Hosen, die er unter seinem Umhang trug. Sein Buchenholzstab klemmte zwischen ihm und dem Dorfschulmeister, in dunkelblauer Gewandung und dem sonnengelben Umhang darüber. Der alte Lehrer lächelte ihn an. »Na, ausgeschlafen?«
Der Junge nickte schläfrig.
»Vigor braucht seinen Schönheitsschlaf«, bemerkte Volker, der neben ihnen auf seinem schwarzen Hengst Obsidan ritt. Volkers prachtvolle Kleidung aus schwarzer Hose, blauer Weste und weißem Hemd, sein Schwert und dem rot-schwarzen Mantel mit dem gelben Innenfutter, machte Vigor darauf aufmerksam welch besondere Reise sie taten.
»Mitfahren macht müde«, rechtfertigte sich Vigor.
»Ja, ich weiß«, antwortete Volker. »Was mich aber nicht davon abhält, dich damit aufzuziehen.«
Vigor streckte ihm die Zunge raus.
»Wir sind aber bald da.«
»Echt?« Vigor sah sich um.
Der Konvoi wanderte bereits seit einer Stunde das Ufer des Nebelsees entlang. Warum sie einen Teil des Sees umrunden mussten, erschloss sich Vigor bislang nicht. Die Ufer waren gleichzeitig die Stadtgrenzen von Sonnensee, dem Sitz des Sonnenordens und Hauptstadt des Reiches unter dem Goldenen Magier. Das Reich des Sonnenordens erstreckte sich vom Großen Strom bei Keeper’s Garden im Osten bis an die Grenze von Feuerglut im Westen und von der Küste des Langen Meeres im Süden bis an die ehemalige Grenze von Horizont im Norden. Letzteres Land stand nun hälftig unter Feuergluts und Darkcasts Kontrolle, zumindest auf dem Papier.
Die Ufer des Nebelsees formten weiß-gelbe Sandstrände, die sich weitläufig um den See zogen. Wenige Laubbäume standen auf den leuchtend grünen Hügeln und Wiesen drum herum. Über dem Wasser war keine weite Sicht möglich, denn darauf schien sich eine dicke Nebelsuppe zu halten, welche ab und an auch über die Küsten zog und dann die ganze Gegend in tristem Grau versenkte. Doch zur Zeit war Erndmond, dem achten Monat des Jahres, und die typisch heiße Sommersonne brannte den Nebel weg, der sich nur störrisch in der Mitte des breiteren Teils des Sees hielt. Vigor war sich sicher, dass der Sonnenorden dabei durchaus mit Magie nachhalf. Anders waren die dicken Nebelschwaden im trockenen Hochsommer nicht zu erklären. Auf diese Weise schützten die Magier die große Stadt vor neugierigen Blicken. In erster Linie jedoch diente es dazu den Ort und besonders seine Magierschule geheimnisvoll zu machen.
Sie erreichten einen prächtigen, weißen Steg am Nordoststrand. Vigor hatte dessen Umrisse schon von weitem ausgemacht, doch aus der Nähe war das Kalksteinbauwerk ein beeindruckender Anblick, denn es hatte die Größe eines ganzen Hauses. Die Reiter hielten und ließen Wagen und Obsidan den Vortritt. Die Wagenräder klapperten über das Kopfsteinpflaster. Der Torbogen aus weißem Marmor ließ keinen Zweifel, dass es sich nicht um eine arme Stadt handeln konnte. An beiden Enden des Stegs ragte ein solcher Bogen gegen den Himmel. Der Kopfstein hatte eine Goldgravierung mit einer strahlenden Sonne in einem zwölfstrahligen Stern darauf. Der Dorfschulmeister hielt sein Pferd an und gähnte. Vigor sah sich um und dann den Lehrer fragend an. Wie ging es nun weiter? Die einsehbaren Seemeilen waren menschenleer und in der Nebelsuppe dahinter schien sich nichts zu rühren. Vielleicht mussten sie sich irgendwie bemerkbar machen.
»Soll ich mal rufen?«, fragte er schließlich.
Der Dorfschulmeister lachte. »Nur Geduld, mein Junge. Die Fähre ist schon unterwegs.«
»Woher wissen die denn, dass wir da sind?«
»Dieses Ufer ist nicht so einsam und unbeobachtet wie es scheint.«
»Magie?«
»Auch.«
»Was denn noch?«
»Es gibt auch jede Menge Kundschafter und Wachen«, erklärte der Dorfschulmeister. »Du kannst davon ausgehen, dass wir bereits seit Stunden beobachtet werden, vielleicht sogar verfolgt.«
»Sind die immer so misstrauisch?«
»Sagen wir, seit langer Zeit. Allerdings erst, seit Wesen der Finsternis versuchen die Macht zu ergreifen. Ein dunkler Schatten ruht über der Welt und der Sonnenorden bemüht sich, ihn von seinen Landesgrenzen fern zu halten.«
»Schafft er das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was glauben Sie?«
Der Dorfschulmeister sah dem Jungen in die Augen und schüttelte den Kopf. Ein Schatten fiel auf sie, als die Mittagssonne verdeckt wurde. Vigor drehte blitzartig den Kopf. Vor ihm ragte der Bugspriet eines großen Schiffes auf.
»Ah, die Fähre«, bemerkte der Dorfschulmeister.
Das dreimastige Schiff hatte einen flachen, breit ausladenden Rumpf für viel Stauraum. In der Takelage der Masten kletterte emsig die Mannschaft herum, um die großen, gelben Segel einzuholen, die die Fähre weiterschieben wollten. Die Männer trugen weiße kurze Hosen, keine Schuhe und die meisten von ihnen verzichteten bei dem warmen Wetter auf ein Hemd. Stoff war kostbar, sodass die einfachen Leute ihn nur trugen, wenn es notwendig war. Die Matrosen waren nur als kleine Männchen erkennbar, wie die Ameisen auf einem Haufen. Doch ihre Rufe und das Flattern und Schlagen des Segeltuchs konnte Vigor deutlich hören. Es musste sehr viel Arbeit sein, ein Segelschiff zu fahren. Das Vorschiff fiel mit einem großen Aufbau zwischen Bug und Fockmast auf und am Heck hatte die Fähre eine mächtige Kajüte, die fast das halbe Deck hinter dem Großmast einnahm. Der Besanmast ragte aus der großen Kajüte. Sie diente wohl dazu, den vielen bedeutenden Passagieren die Überfahrt angenehmer zu machen.
Das Schiff drehte weit vor dem Steg bereits ab und wandte seine Breitseite zu ihnen, während es dennoch auf sie zu trieb. Schließlich ließ es den Anker fallen, der ratternd von der Kette ging und ins Wasser klatschte. Vigor war sich sicher, dass die Mannschaft den ganzen Tag nichts anderes tat als hin und her zu fahren. Denn die Maßarbeit die sie leisteten war bemerkenswert. Das riesige Schiff blieb einige Meter entfernt stehen und genau mit der Einstiegsvertiefung, in der Reling der Steuerbordwand, mittig vor dem Steg. Eine beschaulich wirkende Eichenplanke wurde von der Fähre hinunter gelassen. Über eine komplizierte Seilkonstruktion unterstützten zwei Flaschenzüge an Großmast und Besanmast die Männer beim Bewegen der Planke. Sie wuchs beständig, je weiter sie vom Schiff wegkam. Schließlich war sie so breit wie der ganze Steg und aus dem gleichen dicken Holz wie der Schiffsrumpf. Daher waren vier Männer nötig, um die schwere Rampe von Bord zu hieven und trotzdem recht sanft vor dem wartenden Wagen aufsetzen zu lassen. Das Verfahren erinnerte leicht an eine Zugbrücke.
»Hast du gesehen, wir sind nicht die einzigen«, bemerkte Volker.
Vigor drehte sich um. Er war so mit dem Treiben auf dem Wasser beschäftigt gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wir sich der Steg füllte. Hinter dem Begleitschutz aus der Siebten Armee von Starkenberg hatte sich eine Schlange gebildet. Es standen acht Fuhrwerke hinter ihnen und eine größere Ansammlung von Fußpassagieren. Vigor überschlug die Zahl, es mussten etwa fünfzig sein. Ihrer einfachen, bräunlichen Kleidung nach zu schließen, waren es hauptsächlich Knechte, Mägde oder Erntehelfer. In jedem Fall mussten die meisten aus dem Bauernstand entstammen. Viele Fuhrwerke waren mit Feldfrüchten, wie Kartoffeln und Kohl beladen, was den Verdacht erhärtete. Dazwischen wartete der Planwagen eines fahrenden Händlers. Am Ende stand ein elegant anmutender Reisewagen, der einem reichen Kaufmann oder einem Adeligen gehören musste. Da aber kein nennenswerter Begleitschutz dabei war, konnte es sich nicht um einen Landesherrn aus dem Ausland handeln.
An der Reling neben der Rampe erschien der Bootsmann. Er hatte eine Pfeife um den Hals und trug etwas bessere Kleidung als die Mannschaftsmitglieder, die über die Planke nach unten kamen. Der Bootsmann winkte ihnen oder der Besatzung zu, welche den Steg betraten. Die Matrosen winkten nun den Dorfschulmeister herbei. Der Lehrer fuhr langsam los, dann nahmen zwei Männer seinen Wallach am Zaumzeug in Empfang. Die Matrosen führten