Impressum
März 2016
© Helga Viets, Sonja Höstermann, Renate Bähring, Anke Schmidt
Kontakt: [email protected]
Umschlaggestaltung: Sonja Höstermann
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-9382-3
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Helga Viets
Sonja Höstermann
Renate Bähring
Anke Schmidt
Das Erwachen
der Raben
Roman
1
Der Wind schüttelte die Bäume, die den Parkplatz vom Altenstift „Sonnensturm“ säumten. Als Maria aus ihrem Wagen stieg, rollte ihr eine Kastanie vor die Füße. Sie bückte sich und hob die braune Kugel auf, die sich glatt anfühlte. Ihre Finger begannen, die Oberfläche nach Unebenheiten abzusuchen. Bis auf die kleine Mulde, die noch kurz zuvor in ihrer stacheligen Umhüllung geborgen war, konnten sie nichts erfühlen. Eine perfekte Nuss, dachte Maria. Wenn sie genau hinsah, konnte sie eine Holzmaserung aus Brauntönen auf der Haut erkennen. Die feinen Linien schienen die Schönheit des zukünftigen Baumes bereits anzudeuten.
„Hallo, Maria!“, rief eine Stimme hinter ihr. „Wie geht es deinem Vater?“
Maria sah auf und erkannte Herma Mensen. Ihre Mutter hatte den Einkaufsladen in Eichenstövel betrieben, dem Dorf, aus dem sie stammten. Jeden Tag besuchte Herma ihre Mutter im Altenheim, eine alte Dame e mit ängstlichem Blick. Maria biss sich auf ihre Lippe, denn sie selbst schaffte es nicht jeden Tag zu ihrem Vater, nur vielleicht jeden zweiten. Das schlechte Gewissen plagte sie oft. Insbesondere, weil sie ihn extra hierher nach Rahmeln ins Altenstift geholt hatte, damit sie so oft wie möglich zu ihm konnte.
„Soweit ganz gut“, antwortete sie und hoffte, dass diese Begegnung nicht lange dauern würde. „Und deiner Mutter?“, fragte sie und wollte lediglich höflich sein, denn im Grunde wusste Maria, dass Hermas Mutter schwer demenzkrank war und nicht mehr viel gemein hatte mit der vitalen Frau, die früher die lebende Zeitung des Dorfes gewesen war.
„Sie hat heute ihren Kuchen allein gemümmelt und ich musste sie nicht füttern.“ Herma schloss die Tür ihres Autos auf und zuckte mit den Schultern. „Man freut sich schon über die kleinen Dinge, nicht wahr.“
„Da hast du recht.“ Maria nickte. Ihr Vater war ein starker Mann gewesen, der einen Apfel mit einer Hand zerquetschen und einen Acker von zweihundert Quadratmetern an einem Nachmittag mit dem Spaten umgraben konnte. Heute war er zu schwach, um ohne Gehwagen auf die Toilette zu gehen. Noch immer topfit im Kopf, empfand er den stetigen Abbau seines Körpers umso quälender. Maria fühlte sich verpflichtet, sich als einziges Kind um ihren Vater zu kümmern, sie wollte eine gute Tochter sein, sich niemals etwas vorwerfen müssen. Aber es fiel ihr schwer. Ihr Verhältnis war seit vielen Jahren nicht besonders herzlich. Sie schüttelte den Kopf und ballte ihre Hand so stark um die Kastanie, bis ihre Knöchel ganz weiß wurden und schmerzten. Doch die Gewissheit, ungeliebte Tochter zu sein, blieb hartnäckig. Herma winkte zum Abschied und fuhr auf die Straße. Auf dem Weg zum Foyer steckte Maria die Kastanie in ihre Hosentasche. Vielleicht würde sie die Nuss in ihrem Garten in die Erde stecken. Einen Baum zu pflanzen, war eines der Dinge, die sie irgendwann in ihrem Leben tun wollte. Irgendwann. Vielleicht.
Alberts Augen leuchteten kurz auf, als er Maria erkannte, aber dann bekamen sie wieder ihren trüben Ausdruck. Er saß in einem Lehnstuhl auf der Terrasse, den Gehwagen hatte er griffbereit daneben geparkt. Sie war froh, dass er trotz des relativ rauen Wetters noch draußen saß und sie so dem Mief im Haus entgehen konnte.
Ohne Lächeln nickte Maria ihrem Vater kurz zu, nahm seine Decke und legte sie sorgfältig enger um seine Beine.
„Danke“, murmelte er.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf und sah an ihr vorbei ins Blumenbeet. Die letzten Dahlien des Herbstes leuchteten vor dem grauen Himmel. Maria setzte sich neben ihn auf den Stuhl, nahm die Zeitung aus ihrer Tasche, schlug sie auf und begann zu lesen.
2
Zack! Die Hacke sauste in die Erde. Giersch, Claudias Todfeind im Garten. An ihm reagierte sie sich ab. Wenn sie wütend war, half es ihr, den Giersch zu bekämpfen, ihn von den Wurzeln zu trennen, ihn zu köpfen. Und sie war wütend! Diese unmögliche Kundin. Was bildete die sich ein? Wollte ihr, Claudia, erzählen, wie sie den Blumenstrauß zu binden hatte. Nee, da war sie an die Falsche geraten. Zack und zack und zack. Wenn sie sich mit etwas auskannte, dann waren es Pflanzen, Bäume, Blumen. Claudia wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Keine hatte es bisher gewagt, die Zusammenstellung ihrer Sträuße oder die Art des Bindens zu kritisieren. Im Gegenteil. Die Sträuße wurden immer geschätzt und sie hatte einen großen Stamm von Kundinnen. Bis heute. Zack!
“Die Blumen passen aber nicht zusammen”, hatte die Kundin mit einem kurzen Blick auf die von Claudia herbeigebrachten Blumen geschnarrt und ihre kleine Steckdosennase gerümpft. “Ich möchte Nelken und Irisse. Und das Ganze peppen sie mal mit reichlich Schleierkraut auf.”
Claudias Nackenhaare hatten sich aufgerichtet und eine unsägliche Wut war bis in den Hals hoch geschäumt. Das hätte sie doch gleich sagen können. Aber nein, tat erst so, als wolle sie Claudia die Wahl überlassen. Claudia hätte ihr gerne die Meinung gesagt, beherrschte sich jedoch, drehte sich mit einem vernichtenden Blick auf die Kundin um und stampfte zum Kühlhaus, um die gewünschten Blumen zu holen. Als sie begann, den Strauß zu binden, quetschte sich die Frau neben sie und beobachtete jeden Handgriff.
“Mehr Schleierkraut“, wies sie an.
Claudia schluckte eine angemessene Antwort hinunter, obwohl es ihr sehr schwer fiel.
“Wie machen Sie das denn? Wissen Sie nicht, dass man die Stängel immer schräg aneinander legt, damit der Strauß nachher gut fällt?”
Mit hochrotem Kopf stellte Claudia sich mit dem Rücken zur Kundin, um ihr den Blick auf den entstehenden Strauß zu versperren.
“Lassen Sie mal sehen. Wie sieht es denn jetzt aus?” Die Kundin versuchte, Claudia mit ihrem ausladenden Hintern zur Seite zu schieben.
“Bitte, treten sie zurück und lassen Sie mich meine Arbeit machen“, zischte Claudia. Am liebsten hätte sie der Frau ans Schienbein getreten und aus dem Laden gejagt, oder noch lieber ins Kühlhaus gesperrt. Aber die Blumen hatten so eine Gesellschaft nicht verdient.
Die Frau hatte sie daraufhin tatsächlich in Ruhe gelassen bis der Strauß fertig war und Claudia ihn ihr zeigen konnte.
“Pa! Was ist das denn? Hatte ich nicht gesagt, dass ich viel Schleierkraut will? Und warum haben Sie ihn so kurz geschnitten? Na, Sie verstehen überhaupt nichts vom Binden und von geschmackvollen Sträußen. Das machen sie noch mal, junge Frau.”
Das war zu viel. Claudia hob den Strauß in die Höhe und schlug ihn mit voller Kraft auf den Hintern der verdutzen Kundin und schob sie brutal zur Tür.
“Machen Sie bloß, dass Sie rauskommen“, schrie sie, “und kommen Sie nie wieder!”
Nachdem die Ladentür zugefallen war, blickte Claudia auf den derangierten Strauß, der viele Blüten eingebüßt hatte und den sie noch immer fest umklammert hielt. Kurz entschlossen öffnete sie die Tür und warf ihn