Kapitel 14:
Zum Glück klingelte sie Phillip aus dieser peinlichen Situation.
Er stand unten auf der Straße und berichtete, dass er noch mal zum Krankenhaus fahren wolle, um Anne Kleider zu bringen. Trotz Daniels unverkennbaren Missfallens versprach Paula ohne Umschweife, sich so lange um die Leipold-Kinder zu kümmern.
Sie wollte gerade ihre Schuhe anziehen, als ihr Freund sie ausbremste. Er schnappte sich ihre Hände und zog sie einfach hinter sich her bis zum Sofa. „Die Kinder kommen auch ein paar Minuten ohne dich zurecht. Christine ist ein vernünftiges Mädchen. Bevor ich dir erlaube wegzurennen, setzt du dich erst einmal.“ Er drückte sie auf seinen Schoß und hielt sie vorsichtshalber dort fest.
Paula wurde vor lauter Schreck ganz starr. Was sollte das werden? Hatte sie ihn zu idealistisch eingeschätzt? Wollte er nun nachholen, was auf der Maiershütte durch die Zauners verhindert wurde.
Daniel lächelte bei ihrem verkrampften Anblick unwillkürlich. Es machte somit eher weniger den Eindruck, als ob er ihr demnächst lustvoll die Kleider vom Leib reißen wollte. Sie ärgerte sich über ihre verkorksten Phantasien. Sie benahm sich wie ein kompletter Idiot. Daniel war nicht Jörg. Und außerdem sollte sie endlich aufhören, historische Liebesromane zu lesen.
„Es gibt zwei Dinge, die du wissen solltest. Erstens: ich liebe dich, wie du bist und werde zweitens: dich niemals zu etwas zwingen, was du nicht selbst willst. Vielleicht bin ich nicht der Allerschnellste im Kapieren, aber ich habe immerhin verstanden, dass du gerade keinen Sex möchtest. Falls du also deswegen ständig die Flucht ergreifst, kann ich dich beruhigen. Sorry, wenn ich dich mit meinen Vorstellungen überfordert habe.“ Er wirkte bei diesen Worten allerdings sichtbar geknickt und Paula sah sich folglich genötigt, ihm ihre Motivation für diese Haltung, so gut es ging zu erklären. Und wo sie schon bei diesem schwierigen Thema war, konnte sie ihm gleich von ihrer Pseudofreundschaft mit Jörg erzählen.
Er hörte schweigend zu, wie sie diese Episode ihres Lebens vor ihm ausbreitete. Selbst Jörgs wenig schmeichelhafte Kommentare zu ihrer Person, die er im Kollegenkreis verbreitet hatte, gestand sie ihm. „Hältst du mich nun für daneben?“, fragte sie im Anschluss an ihre Offenbarung und wagte es nicht, ihn dabei anzusehen.
Einige Sekunden verstrichen und sie fürchtete schon, dass er ihr intimes Bekenntnis in den falschen Hals bekommen haben könnte und nun mit Fluchtgedanken spielte.
Endlich sagte er: „Das ist der falsche Ausdruck. Ich muss mich nur erst an diese Vorstellung gewöhnen. Ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, dass es heutzutage noch Frauen gibt, die Wert auf Enthaltsamkeit legen. Damit habe ich einfach keine Erfahrung. Ich hoffe, du hast ein bisschen Geduld mit mir.“ Das selbstbewusste Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einem schwer zu deutenden Ausdruck Platz gemacht. „Manchmal glaube ich sogar, dass ich so jemanden wie dich überhaupt nicht verdiene“, fügte er hinzu.
Paula schaute ihn verwundert an. Vor ihren Augen schien eine Art Verwandlung vor sich zu gehen. Dieses Mal aber nicht vom Prinzen zum Frosch, wie bei Jörg an dem besagten Abend, sondern von einem selbstsicheren Mann zu einem zerknirscht wirkenden Jungen. Zuerst schimmerte dieses junge, traurige Gesicht nur bruchstückhaft durch die gewohnten Züge hindurch, dann aber bröckelte immer mehr von seiner selbstbewussten Mimik ab. Die Mundwinkel, die oft so zynisch lächeln konnten, glätteten sich allmählich und seine Augen wurden dunkler und sanft. Sie war so fasziniert von diesem Wunder, das da vor sich ging, dass sie die nächste halbe Stunde völlig vergaß, von seinem Schoß aufzustehen. Es wirkte, als ob eine Schleuse geöffnet worden wäre. Er fing an, von sich zu erzählen, zuerst stockend, dann zunehmend schneller und flüssiger. Den Anfang bildete seine Vergangenheit. Er berichtete von seiner Kindheit. Dann brachte er die Sprache auf seine sexuellen Beziehungen. Von der älteren Vermieterin erzählte er, bei der er während der Oberstufe gegen gewisse Zugeständnisse und Gegenleistungen umsonst wohnen durfte. Die gesparte Miete investierte er in Markenklamotten und den Führerschein. Von Sophie Vollmer, seiner ersten normalen Freundin, in die er bis über beide Ohren verliebt gewesen war, berichtete er. Plötzlich fiel der Name Petra Maier.
Paula wagte kaum zu atmen.
Petra war sechzehn gewesen, als er sie eines Abends im „Roten Baum“ kennenlernte. Sie war mit ihrem Vater zusammen nach Lämmerbach gekommen. Herr Maier hatte den bewaldeten Berg und die dortige Hütte gepachtet, ging seiner Passion als Freizeitjäger nach und seine Tochter langweilte sich bei ihren Wochenendaufenthalten in diesem Hinterwäldlerdorf entsetzlich, bis sie Daniel entdeckte. Dass er bereits eine Freundin hatte, beeindruckte sie nicht sonderlich.
„Ich will nicht alle Schuld auf Petra schieben. Immerhin hätte ich mich wehren können. Aber sie wusste, was sie tat. Ich hatte einiges getrunken und sie rückte mir derart professionell zu Leibe, dass sich wohl kurzzeitig mein Verstand ausgeschaltet hat. Ich war eben siebzehn“, berichtete Daniel mit um Verständnis bittender Miene. „Sophie erfuhr natürlich davon und machte mit mir Schluss. Ich war am Boden zerstört. Petra nutzte daraufhin meine Verzweiflung aus. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, es wäre nicht schön mit ihr gewesen. Sie wusste nur allzu gut, wie man einen Jungen bei Laune hält. Aber ich ahnte die ganze Zeit, dass sie mit mir nur spielte. Irgendetwas machte mich von Anfang an bei ihr misstrauisch. Außerdem bekam ich heraus, dass sie ein nicht unerhebliches Drogenproblem hatte. Trotzdem ließ ich mich auf ihr Spiel ein.“ Er schloss für einen Moment die Augen.
Paula wagte es nicht, ihn anzusprechen, aus lauter Angst, er könne abbrechen und ihre Chance, wenigstens einmal hinter seine Maske zu blicken, wäre für immer vertan.
Als er fortfuhr, klang seine Stimme rau: „Irgendwann hat sie dann aus heiterem Himmel behauptet, von mir schwanger zu sein. Allerdings glaubte ich ihr das nicht. Ich mochte zwar eine Menge Dummheiten in dieser Zeit begangen haben, aber ungeschützter Verkehr gehörte nicht dazu und schon gar nicht mit einer Heroinabhängigen. Da gab sie unumwunden zu, dass sie nicht genau wisse, wer für die Schwangerschaft verantwortlich wäre. Für eine Abtreibung sei es aber zu spät und ihr Vater dürfe nie etwas von den Münchner Freunden erfahren. Er hätte jedoch keine Schwierigkeit, mich als künftigen Schwiegersohn zu akzeptieren. Ich hatte natürlich keine Lust, mich vor ihren Karren spannen zu lassen. Daraufhin versuchte sie mich zu erpressen. Wenn ich nicht bereit wäre, mich zu diesem Kind zu bekennen, würde sie allen Lämmerbachern erzählen, dass ich sie vergewaltigt habe. Schließlich sei sie noch minderjährig und die Umstände sprächen eindeutig gegen mich. In einem derart konservativen Ort würde man in solchen Dingen sicherlich keinen Spaß verstehen.“ Seine Miene verfinsterte sich beim Erzählen zusehends und Paula war sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt noch wusste, dass sie auf seinem Schoß saß und zuhörte. Es klang mehr, als spräche er zu sich selbst.
„Selbstverständlich habe ich mich nicht auf diesen hirnrissigen Deal eingelassen. Ich sagte ihr klar, was ich von der ganzen Sache hielt, ging und ließ sie allein in der Hütte zurück. Zehn Minuten später fiel ein Schuss. Ich fand sie blutüberströmt auf dem Boden. Sie habe nicht die Absicht gehabt, sich zu verletzen, gestand sie mir noch, bevor sie das Bewusstsein verlor. Es hätte eigentlich nur ein Warnschuss werden sollen. Ich weiß nicht, ob das stimmte, aber es hätte ohnehin nichts mehr daran geändert. Ich habe später versucht, sie im Krankenhaus zu besuchen, aber sie wollte mich nicht sehen. Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist.“ Daniel kehrte allmählich in die Gegenwart zurück. Nun schaute er sie direkt an und lächelte schwach: „Ich weiß, es gibt heute noch Leute, die über die ganze Sache sprechen und mir dabei die Schuld für diese Tat in die Schuhe schieben. Wahrscheinlich sind dir bereits eine Menge Gerüchte zu Ohren gekommen.“
Statt einer Antwort drückte Paula ihn nur stumm an sich.
„Damals habe ich mir geschworen, Lämmerbach für immer hinter mir zu lassen. Ich wollte mein eigenes Leben führen und es genießen, so gut es eben ging. Weil ich gefühlt nichts mehr zu verlieren hatte, stürzte ich mich in Affären. Es gab stets genug Mädchen, die Interesse an mir hatten.“ Er schluckte und kämpfte mit seinen folgenden