Bei Paula begann ihre berühmte Alarmglocke zu läuten. Sie hatte von solchen Fällen gehört und gelesen. Vor allem junge Mädchen mit problematischem familiärem Hintergrund waren gefährdet. Es war eine Form, den Schmerz, der in ihrem Innern herrschte, auszudrücken. Irgendwie verstand sie ihre Schülerin sogar ein bisschen. Das letzte halbe Jahr hatte es für Nicole wirklich in sich gehabt. Ihr komplettes Leben war umgekrempelt worden. Zuerst starb der geliebte Opa. Dann tauchte Phillip auf und ihre Mutter verliebte sich in ihn. Anschließend mieteten sich drei zusätzliche Kinder dauerhaft in ihrem Elternhaus ein. Hannes bevorzugte Christine und ließ sie deswegen links liegen und zu guter Letzt musste ihr einziger Onkel auch noch mit der Lehrerin anbandeln. Wenn man sich dazu vorstellte, dass Nicole mitten in der Pubertät steckte, brauchte man sich über ihre Reaktionen eigentlich nicht weiter zu wundern.
Paula wagte einmal mehr einen Versuch, ihre Freundin für dieses Thema zu sensibilisieren und stattete am Freitag gleich nach dem Nachmittagsunterricht dem Arzthaus einen Besuch ab. Deren Tochter war am Morgen heulend aus dem Klassenzimmer gelaufen, als sie eine 5-6 in ihrem Englischtest herausbekommen hatte, und bis zum Unterrichtsende nicht mehr aufgetaucht.
Anne wirkte allerdings abgelenkt, während Paula ihre Bedenken vorbrachte. Sie schaute sie kein einziges Mal direkt an und freute sich offensichtlich auch nicht sonderlich über ihren Besuch.
Zum Schluss sagte sie nur: „Danke für deine Mitteilung. Ich werde mich drum kümmern.“ Dann wechselte sie einfach das Thema: „Du weißt sicher, dass Dani heute Abend kommt.“ Ihr Blick bekam etwas Flehendes und Paula spürte, dass es besser war, nicht weiter nachzuhaken.
Deshalb nickte sie und versuchte ebenfalls umzuschalten. „Ich hoffe, dass das mit der Käsedokumentation am Montag und Dienstag hinhaut. Julia will morgen auch anreisen. Dein Bruder hat sie dazu überredet und ihr gesagt, dass er sie unbedingt als dekoratives Hintergrundbild braucht.““ Mit etwas Mühe schlug die Besucherin einen leichteren Tonfall an. Sie musste lernen, ihre Finger aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszulassen.
Als sie sich kurz darauf verabschiedete, machte Anne an der Haustür den Eindruck, als wolle sie ihr doch noch etwas mitteilen. Sie öffnete den Mund und wirkte seltsam bedrückt. Doch bevor sie einen Ton herausbringen konnte, knallte eine Tür im oberen Geschoss. Die Hebamme drehte sich daraufhin ruckartig um und stürzte ins Haus zurück.
Kapitel 11:
Daniel traf bei seiner Ankunft seine Schwester im Ausnahmezustand an. Nicole war verschwunden. Phillip befand sich seit dem Nachmittag erfolglos auf der Suche nach ihr. Zum Mittagessen war sie einfach nicht erschienen. Vor einer Stunde hatte ihn nun ein anonymer Anruf auf die Hochalm beordert und seither kam kein Lebenszeichen mehr.
Anne stand in der Küche, versuchte Kartoffeln zu schälen und dicke Tränen tropften dabei in die Schüssel. Die übrigen Kinder befanden sich draußen und hofften, die verlorene Tochter irgendwo zu entdecken.
Daniel legte in einer seltenen Geste geschwisterlichen Mitgefühls den Arm um sie. Sie klammerte sich schluchzend an seinen Hals. Etwas hilflos strich er ihr über den Rücken. Irgendwann hatte sie sich soweit beruhigt, dass sie Näheres berichten konnte. Sie schaute ihn unglücklich an und seufzte: „Es ist alles meine Schuld“, dann quollen neue Tränen hervor.
„Ist es wegen Phillip?“
Anne nickte und schaute zu Boden: „Nicole hat uns letzte Nacht… Phillip war bei mir und na ja, sie muss etwas gehört haben.“
„Du und Phillip, ihr hattet...“ Daniel blieb vor Überraschung der Mund offenstehen.
„Ungeplant natürlich“, beichtete sie. „Wir fühlten uns einsam und da ist es eben passiert. Im Nachhinein komme ich mir echt schäbig vor.“
Es lag nicht in Daniels Natur, den Moralapostel für seine Schwester zu spielen. „Und Nicky hat euch dabei gesehen.“
„Ich weiß nicht, wie viel sie mitbekommen hat, aber sie hat sich anschließend in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Ich wollte gleich mit ihr reden, aber Phillip meinte, wir sollten ihr etwas Zeit lassen. Am nächsten Morgen hat sie mich dann beim Frühstück fertig gemacht. Ich mag gar nicht wiederholen, was sie mir alles an den Kopf geworfen hat. Sie hat sogar behauptet, ich wüsste vermutlich nicht einmal, wer ihr Vater wäre.“ Annes Schluchzen schwoll bei diesen Worten wieder an. „Phillip hat daraufhin mit ihr gesprochen und ich dachte, sie hätte sich etwas beruhigt. Aber sie kam nach der Schule nicht heim. Paula erzählte, sie wäre heulend aus dem Unterricht gelaufen.“
Genau in diesem Moment meldete sich das Funkgerät. Phillip war dran. Er habe Nicole auf der Hochalm gefunden, aber mehr wollte er dazu nicht sagen, außer dass sie verletzt sei und Daniel mitkommen solle, falls er sich bereits hier befände.
Fünf Minuten später startete Daniel seinen Geländewagen. Anne kauerte wie ein Häufchen Elend neben ihm.
Kapitel 12:
An Paulas Tür klingelte es. Sie hatte über eine halbe Stunde lang an ihrer Frisur gefeilt, einen kleinen Imbiss für Daniel vorbereitet und wunderte sich allmählich über seine Verspätung.
Zu ihrer Überraschung stand Christine vor der Tür. Sie berichtete in knappen Worten, was vorgefallen war und dass sich alle Erwachsenen auf der Hochalm befänden.
„Warte einen Augenblick, ich komme mit rüber.“ Paula sperrte ab und folgte Christine zum Arzthaus. Es fing an zu dämmern und sie wollte die Kinder bei der Aufregung nicht alleine lassen.
Sie trafen Lena, das jüngste der Leipold-Kinder, in der Küche an. Normalerweise hätte sie um diese Uhrzeit tief und friedlich in ihrem Bett schlafen müssen, war aber bei der allgemeinen Unruhe einfach vergessen worden. Das kleine Mädchen hatte gerade begonnen, den Kühlschrank auszuräumen. Sie wolle Küche putzen spielen, erklärte sie mit treuem Augenaufschlag. Dass nachts um halb zehn kein geeigneter Zeitpunkt dafür war, schien ihr nicht einzuleuchten. Außerdem zeigte ihr schokoladenverschmierter Mund, dass es wohl keine reine Putzaktion gewesen war. Die Küche sah ansonsten genau so aus, wie sie Anne vor etwas über einer Stunde in fliegender Hast verlassen hatte.
Paula machte sich wortlos ans Säubern und Aufräumen, während Christine die Grundreinigung ihrer Schwester übernahm. Nebenbei wurde Ferdinand ins Bett geschickt.
Anschließend saßen die Übriggebliebenen im Wohnzimmer und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Hannes hatte sich bereitwillig dazugesellt.
Plötzlich hörten sie ein lautes Brummen. Es klang verdächtig nach einem Hubschrauber. Hannes stürmte nach draußen und erstattete Bericht. Auf der Hochalm war in der Tat ein Rettungshubschrauber gelandet. Paula schnürte es vor Angst förmlich den Atem ab. Was ging da oben vor sich?
Plötzlich begann Christine laut zu beten. Sie bat Gott in ihrer schlichten Art, dafür zu sorgen, dass mit Nicole wieder alles in Ordnung käme. Paula wurde einmal mehr von dem direkten Glauben des Mädchens beschämt und schloss sich ganz gegen ihre Gewohnheit diesem Gebet laut an, auch wenn es sie eine Menge Überwindung kostete. Warum war sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen?
Hannes verharrte währenddessen mit gesenktem Kopf auf seinem Stuhl und schwieg.
Irgendwann klang es,