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Sensorische Intelligenz, ob als Wahrnehmung durch Sinnesorgane, als neuronale Bearbeitung von Wahrnehmungen oder als Kompromiss aus beiden, nimmt wahr was für unser Überleben wichtig oder unwichtig ist. Sensorische Intelligenz interpretiert das Umfeld, entwirft Bilder und produziert „Vorstellungen“.
Die reale Welt oder das „Ding an sich“ in Kants oder Schopenhauers Diktion ist jetzt ein subjektives- und von jedem Tier und jedem Menschen unterschiedlich wahrgenommenes Produkt. Sensorische Funktionen und deren neuronale Kontrolle durch Erfahrung und Gedächtnis machen aus unseren sinnlichen Wahrnehmungen ein von der Realität sich unterscheidendes Konstrukt. Diese inzwischen allgemein akzeptierte Erkenntnis der Hirnphysiologie beschäftigt seit mehr als 2000 Jahren die abendländische Philosophie bis heute und führt in einen Streit um die Erfahrbarkeit der materiellen Welt und schließlich gar in einen Streit um deren Existenz oder Nichtexistenz. Mit Platons (427-348 v. Chr.) Höhlengeschichte wurde diese Diskussion eröffnet: In einer Höhle wirft das einfallende Licht von dort sitzenden Personen oder dort befindlichen Gegenständen ein Schattenbild an die Höhlenwand, aber kein reales Bild von beiden. Analoge Schattenbilder, so Platon, produziert auch unsere sensorische Intelligenz aus den uns zugehenden Wahrnehmungen. Umfeld und Welt sind für Platon zwar real vorhanden, doch werden sie nur als „Schatten“ oder als Konstrukte wahrgenommen. Die reale Welt oder deren wirkliche Gestalt ist allenfalls als menschliche Idee begreifbar. Mit dieser Vorstellung wird Platon zum Begründer eines europäischen Idealismus. Descartes (1596-1650) übernimmt die Thesen Platons und radikalisiert sie. Für Descartes existiert der Mensch in zwei Arten des in der Welt Seins: Er ist Körper und Geist, ist materielles Objekt und Bewusstsein, ist res externa und res cogitans und beide sind vollständig getrennt. Der Körper ist ein materielles Objekt und Teil der Natur. Bewusstsein und res cogitans sind ein göttliches Geschenk und nur dieses denkende Ich ist für Descartes gewiss: „Ich denke also bin ich“, sagt er. Mit dieser Philosophie wird Descartes zu einem Begründer des philosophischen Solipsismus oder eines radikalen Konstruktivismus. Eine Welt außerhalb meines Gedanken- und Ideen produzierenden Ichs existiert für Descartes allenfalls als Konstruktion und wir können noch nicht einmal sicher sein, ob sie real existiert oder nur in unserem Geist. Diesem radikalen Konstruktivismus widersprechen die englischen Aufklärer Locke (1632-1704) und Hume (1711-1776) und begründen Empirismus und Sensualismus. Für diese Philosophen beruht jede Erkenntnis des Menschen auf Erfahrungen, die er mit sensorischen Wahrnehmungen gewinnt. Erkenntnis ist dann ein Produkt aus Sinneswahrnehmungen und deren Bearbeitung durch Erfahrungen und Gedächtnis, ein Produkt aus Sensorik und Geist. Sie bleibt aber auch als Bild oder Vorstellung von der Welt noch eine reale Erkenntnis, denn sie vermittelt uns die Welt , in der wir leben.
Der von Descartes und von den ihm folgenden Konstruktivisten ausgelöste Philosophenstreit über eine Welt, die nur im menschlichen Geist existiert, ist heute überwunden. Von Darwins Evolution wissen wir, dass eine materiale- oder biologische Welt schon lange existierte bis in einem letzten Wimpernschlag der Evolutionsgeschichte der Mensch auftaucht und spekuliert, philosophiert oder träumt. Wer naturwissenschaftliche Forschung betreibt und die Physiologie von tierischer und menschlicher Sinneswahrnehmung kennt, weiß, dass Sinnesorgane von Tier und Mensch oder die Bearbeitung von Wahrnehmungen durch neuronale Bearbeitung ein für jedes Tier und für jeden Menschen jeweils unterschiedliches Bild der Welt entwerfen. Es sind vom Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und deren neuronaler Bearbeitung gestaltete und entworfene Bilder, aber es sind Bilder einer existierenden Welt. Was immer Tier und Mensch mit ihren Sinnen wahrnehmen ist von der Welt in der wir leben ausgelöst, hat einen realen Hintergrund, auch wenn von diesem realen Hintergrund oder dem „Ding an sich“ unterschiedliche Bilder oder Gestaltungen entworfen werden.
6. Ich fasse zusammen
Das früheste Erbe einer mentalen Evolution des Menschen sind von „evolutionärer Intelligenz“ erschaffene biologische Grundlagen: Deren Variationen schaffen Entwicklung und schließlich auch eine mentale Evolution des Menschen. Evolutionäre Intelligenz orientiert sich am kosmologischen Gesetz von „Ursache und Wirkung“ und verwandelt dieses in ein biologisches Gesetz von „Irritation und Reaktion“. Das biologische Gesetz von „Irritation und Reaktion“ aber muss lernen zu unterscheiden: Wer überleben und sich fortpflanzen will muss erkennen, was ihm nützt und was ihm schadet. Diese Existenzsicherung liefert eine „sensorische Intelligenz“.
Die Sensorische Intelligenz ist eine Grundbedingung allen Lebens und wird in der biologischen Welt zahlreiche Variationen erfahren. Symbiose, Mutualismus und Kooperation sind akzeptierende biologische Reaktionen. Vernichtung, Parasitismus und Konkurrenz sind ablehnende Reaktionen. Sie werden, von evolutionärer Intelligenz initiiert, bereits im zellulären Miteinander beobachtet und lenken schließlich auch das menschliche Verhalten.
Zwei unterschiedliche Formen „sensorischer Intelligenz“ sind wiederum die Erfindungen einer „evolutionären Intelligenz“: Sensorische Intelligenz entsteht durch eine Vielfalt und eine Spezialisierung sensibler Organe für Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Sie werden zu einem Wesensmerkmal der tierischen Evolution, führen zu Trieben und Instinkten und entwickeln „topische“ oder „phobische“ Reaktionen. Für Säugetiere, für Primaten und für den Menschen entwickelt die evolutionäre Intelligenz eine zusätzliche Spezifität: Sensorische Wahrnehmungen, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, werden neuronal- und hormonal bearbeitet und dann erst beantwortet.
Die Fähigkeit zu unterscheiden durch sensorische Intelligenz ist eine sehr frühe Form biologischer Intelligenz und ist verantwortlich für zwei grundsätzliche Tendenzen der biologischen Evolution. Erste Konsequenz des Unterscheidens ist die Entwicklung einer biologischen Diversität unterschiedlichster Pflanzen und Tiere: Wo in der Biologie Neues aufkommt entscheidet das Umfeld ob das Neue brauchbar und nützlich ist und eine Weiterexistenz möglich wird oder ob das Umfeld die Fortentwicklung oder die Existenz des nicht Brauchbaren oder Nutzlosen verhindert. Fortentwicklung zu Diversität, an der wir uns erfreuen, die wir bewundern und bestaunen, sind die bisher erkennbaren Folgen des biologischen Unterscheidens von Akzeptanz oder Abwehr.
Eine zweite Konsequenz der sensorischen Intelligenz des Unterscheidens macht aus einem Reiz eine topische- oder phobische Reaktion. Jeder Reiz ist in der biologischen Welt entweder mit Akzeptanz und Zuversicht oder mit Abwehr und Gefahr assoziiert. Das implizite- oder biologische Lernen wird diese doppelte Assoziation fortführen und sich zwischen Symbiose, Mutualismus und Kooperation oder Tötung, Parasitismus und Konkurrenz entscheiden. Eine wichtige Konsequenz der sensorischen Intelligenz des Unterscheidens in der Biologie ist beim Menschen ein inhärenter Dualismus seines Entscheidens: Der Mensch ist zugleich Altruist und Egoist. Kommen Emotionen und Gefühle ins Spiel, so entstehen aus einer akzeptierenden Reaktion Liebe und Zufriedenheit oder aus der ablehnenden Reaktion Angst und Sicherheit. Kognitive Reaktionen werden schließlich zum Frieden und zur Zusammenarbeit oder auch zu Krieg und Feindschaft führen. Die frühe biologische Intelligenz der Unterscheidung bestimmt bis heute das menschliche Handeln, Fühlen und Denken. Da wir aber nicht nur biologische, sondern auch fühlende und denkende Wesen sind, können wir entscheiden, ob wir uns von Angst und Unsicherheit durch Fremdes leiten lassen oder Unterschiedlichkeit und Diversität als etwas Schönes und Liebevolles akzeptieren. Nur wenn wir Diversität akzeptieren, folgen wir dem Weg der Evolution. Dies gilt für Natur und Umfeld genauso wie für das gesellschaftliche Miteinander des Menschen. Die Vielfalt und die Diversität der biologischen Welt der Pflanzen und der Tiere können wir nur über die Milliarden Jahre ihres Entstehens begreifen. Jede einzelne Pflanze und jedes Tier sind auf ihre Art genauso einmalig wie der Mensch. Evolutionäre Intelligenz schafft aus wenigen