Die Zahl der Individuen, die eine Gruppe bilden, ist kein Grund für Hirnwachstum. Das Gehirn wächst, wenn neue Funktionen geschaffen werden, die einem biologischen Akteur in einem gegebenen Umfeld die Chance des Überlebens bieten. Das Leben in der Gruppe macht neue Funktionen notwendig. Schon in der Linie der nichtmenschlichen Primaten werden, ausgehend vom Einzelgänger Orang Utan und deren Nachfolgern Gorillas, Schimpansen und Bonobos, die Gruppen immer größer. Bei Gorillas ist die Gruppe meist noch ein großer- und genetisch verwandter Familienverband. Bei Schimpansen und Bonobos bilden bereits mehrere Familien eine Gruppe und dieser Trend wird sich in der menschlichen Linie fortsetzen. Alle von den nichtmenschlichen Primaten ausgehenden Tendenzen lassen eine größer werdende-, über Familienbande hinaus führende Gruppenbildung erkennen.
Geschlechtliche Differenzierung und Hierarchie werden in einer größer werdenden Gruppe geringer. Männer und Frauen arbeiten in der Gruppe zusammen und eine genetisch gelenkte familiäre Bindung wird von einer emotionalen Bindekraft ergänzt. Diese Tendenzen der nichtmenschlichen Primatenreihe werden sich bei den aufrecht gehenden Hominiden fortsetzen und deren Verhalten bestimmen. Die „soziale Komplexität“ einer Gruppe erfordert neue Formen des Zusammenhalts und emotionale Intelligenz wird diesen Zusammenhalt lenken. Soziale Komplexität steigt, wenn genetische- oder verwandtschaftliche Bande nicht mehr die Gruppe stabilisieren. Genetische- oder familiäre Verwandtschaft innerhalb einer größer werdenden Gruppe aus mehreren Familien führt zu unterschiedlichen Interessen, erschwert den Umgang miteinander und lässt Streit und Zwietracht entstehen. Neue Möglichkeiten des Zusammenhalts einer Gruppe müssen entstehen:
Ein neuer- und emotionaler Umgang miteinander muss in einer größer werdenden Gruppe das Zusammenleben optimieren. In der Gruppe wird deren Weiterexistenz zu einer Sorge um den Nachwuchs und „kooperative Aufzucht“ hilft. Bei keiner biologischen Art ist der Nachwuchs so sehr auf die Hilfe der Eltern oder anderer Personen angewiesen wie beim Menschen. Denn: Der Mensch wird als „physiologische Frühgeburt“ geboren, schreibt der Basler Zoologe Adolf Portman. Die Kinder der Säugetiere stellen sich, erst noch unsicher, nach wenigen Stunden auf ihre Beine, laufen weg und suchen das Euter der Mutter. Sie kommen mit einer Reife in die Welt, die sie zu frühen Selbstversorgern macht. Bei nichtmenschlichen Primaten beginnt eine erste Veränderung: Ihr Nachwuchs braucht in den ersten Wochen und Monaten eine intensive Versorgung durch die Mutter und führt zu einer über Jahre anhaltenden Bindung an die Mutter und in eine Abhängigkeit von der Mutter. Bei nichtmenschlichen Primaten wird diese Abhängigkeit hormonell gelenkt. Kinder können oft nicht überleben, wenn die Mutter umkommt oder getötet wird. Im Gegensatz zu höheren Säugetieren ist der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt hilflos und auf Totalversorgung angewiesen. Er muss über 1 bis 2 Jahre Entwicklungsprozesse nach vollziehen, welche die meisten Tiere schon intrauterin erwerben.
Wie nicht selten in der biologischen Evolution wird der gegenüber Säugetieren vermeintliche Nachteil einer „physiologischen Frühgeburt“ schließlich zu einem Entwicklungsprivileg: Der noch unausgereifte Entwicklungsprozess des Menschen zum Zeitpunkt seiner Geburt wird im sozio-kulturellen Umfeld der Familie durch emotionale- und physische Kontakte formbar. Das Kind lernt sich anzupassen und wird früh zum Mitspieler im gegebenen Umfeld seiner Familie. Nie lernen die Menschen durch Imitation und Prägung so konzentriert, wie in den ersten beiden Lebensjahren. Das Kind braucht die Versorgung durch die Mutter und die Gruppe braucht für ihre Weiterexistenz den Nachwuchs. Die Gruppe muss den Nachwuchs versorgen, wenn der Mutter etwas zustößt.
Wozu wir heute den Kindergarten oder die Kita benutzen, dafür erfinden die Hominiden eine „kooperative Aufzucht“. Die Voraussetzungen dafür finden sich bereits bei den nichtmenschlichen Primaten: Von der Verhaltensforschung werden an nichtmenschlichen Primaten regelmäßig den Zusammenhalt fördernde Attribute oder Eigenschaften beobachtet: Beschrieben werden „social grooming“, Versöhnungsrituale, gegenseitiges Verstehen und Empathie bis hin zu Hilfeleistungen, wenn jemand in Gefahr gerät. Aufbauend auf diesen Erfahrungen der Verhaltensforscher an nichtmenschlichen Primaten entwickelt die Ethnologin Sarah Bluffer Hrdy eine Theorie der anthropologischen Evolution. In ihrem Buch „Mütter und Andere“ beschreibt sie „Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat“25. Für Hrdy sind „vertieftes intentionales Verstehen“, sind Empathie und das Bestreben Andere zu verstehen Eigenschaften nichtmenschlicher Primaten, die vor etwa 2 Millionen Jahren von den Hominiden übernommen- und intensiviert werden. Sie werden zum Beginn einer „kooperativen Aufzucht“ der gefährdeten und physiologisch früh geborenen Kinder. „Kooperative Aufzucht“ oder „alloelterliche Versorgung“ der Kinder, so die Autorin, führen zur Abgrenzung der Hominiden aus der Reihe der Primaten und erklären die erfolgreiche Linie zum Homo erectus und später zum Homo sapiens. „Im Falle der frühen Hominiden schufen alloelterliche Fürsorge und Ernährung die Voraussetzungen dafür, dass sich Kleinkinder in neuer Weise entwickeln konnten“. Eine die Mutter ergänzende alloelterliche Fürsorge durch Großeltern, durch Geschwister oder durch weitere Mitglieder der Gruppe sichern das Überleben eines Kindes, auch wenn die Mutter nicht mehr da ist. Die Alloeltern versorgen die Kinder mit eiweißreicher Nahrung. Kinder müssen sich mit mehreren Erziehern auseinandersetzen und intensivieren ihre Emotionen oder Gefühle. Kooperative Aufzucht setzt das Lernen durch Nachahmung von Vorbildern fort, initiiert ein soziales Lernen und erklärt das Hirnwachstum und eine stürmische Entwicklung der Hominidenreihe. Hrdy`s Theorie stützt sich auf drei Beobachtungen: „Kooperative Aufzucht“ wird möglich durch eine emotionale Bindung zu unterschiedlichen Versorgern und überwindet den engen körperlichen Kontakt der Schimpansenkinder an ihre Mutter. Emotionale Bindung an mehrere Versorger erweitert den emotionalen Umgang und fördert den Zusammenhalt der Gruppe. Schließlich offenbaren auch ethnologische Befunde an indigenen Jäger- und Sammlergruppen eine intensive Mitbeteiligung von Vätern, Geschwistern, Großeltern und Clanmitgliedern in der Aufzucht von Kindern. Kinder werden oft schon nach der Geburt in der gesamten Gruppe herumgereicht, gelegentlich von einer nicht mütterlichen Brust ernährt oder von Großmutter und Tante mit vorgekauter Nahrung versorgt. Wie wichtig Kinder in indigenen Gruppen sind beschreibt E.H. Erikson in „Kindheit und Gesellschaft“26 mit seinen Beobachtungen bei den Sioux: Die Sioux vertreten, „dass ein Kind solange es klein ist ein Individualist sein darf“. „Man kennt bei ihnen keine Verurteilung infantiler Gewohnheiten“. Die Sioux-Erziehung „bringt das Gefühl hervor, in der Welt zu Hause zu sein“. Und ein afrikanisches Sprichwort lautet: „An der Erziehung eines Kindes ist ein ganzes Dorf beteiligt“.
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Wie die Arbeit mit nichtmenschlichen Primaten Verhaltensformen offenbart, die sich bei den Hominiden fortsetzen und erweitern, hat die Neurophysiologie im letzten Jahrhundert Befunde erhoben, in welchen man Entwicklungstendenzen vom nichtmenschlichen Primaten zur Entwicklungslinie der Hominiden erkennen kann. 1950 beschreibt der kanadische Neurologe Wilde Penfield im Gyrus postcentralis des Gehirns durch elektrische Reizung Regionen, in welchen er Bewegungen in bestimmten Körperorganen oder Körperstellen auslösen kann. Penfield ist Epilepsieforscher und sucht nach einer Therapiefähigkeit für Epilepsie. Er verfolgt genau, welche Bewegungen er im menschlichen Körper auslösen kann, wenn er an unterschiedlichen Stellen des Gyrus postcentralis stimuliert. Er beschreibt mit diesen elektrischen Reizungen eine funktionale Architektur im motorischen Gyrus postcentralis, in welcher die Körperproportionen einen motorischen „Homunculus“ ergeben, mit großem Kopf, mit großem Gesicht und noch größerer Mund- und Kieferregion. Der Homunculus offenbart als zweite Besonderheit eine große Hand mit kräftigen Fingern und noch größerem Daumen.