Dunkles Wasser - Heller Mond. Wolfgang Ommerborn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Ommerborn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754186251
Скачать книгу
erst richtig los. Zwischen dem Gegröle und Gelächter der Piraten waren immer wieder die verzweifelten Schreie von Frauen zu hören. Zhuowu sah den Kaufmann beunruhigt an.

      „Ja, das gehört leider auch dazu. Sie fallen jetzt über die drei Frauen her.“

      „Alle Piraten?“ fragte Zhuowu entsetzt.

      „Sofern sie keine anderen Neigungen haben“, erwiderte Herr Lang mit bitterer Stimme.

      Plötzlich jedoch fand das Grölen und Lachen ein abruptes Ende. Unverständliche aufgeregte Schreie und Rufe der Piraten waren zu hören. Über den Köpfen der beiden Gefangenen setzte ein wildes Getrappel ein. Hektisch wurde auf dem Deck hin und her gelaufen. Dann war für einige Zeit nur noch Kampflärm zu vernehmen. Man hörte den hellen Klang von sich kreuzenden Schwertern, das Stöhnen von Menschen, die getötet oder verwundet wurden, und den dumpfen Ton, wenn ihre getroffenen Körper auf den Holzboden schlugen.

      „Die Küstenwache“, erklärte Herr Lang aufamtend, „ich habe gewusst, dass sie kommen.“

      „Hoffentlich können sie die Piraten besiegen.“

      Der Kaufmann antwortete nicht und nickte nur mit dem Kopf.

      Irgendwann wurde es ruhiger auf Deck. Befehle wurden erteilt. Als schließlich die Klappe zu dem Verschlag geöffnet wurde, in dem Zhuowu und Herr Lang eingesperrt waren, und jemand mit einer Fackel in den dunklen Raum hineinleuchtete, stellten sie erleichtert fest, dass es ein Offizier der Küstenwache war.

       Die Familie

      

      Mit zwei Tagen Verspätung fuhr das von Soldaten der Küstenwache gesteuerte Handelsschiff mit Zhuowu und Herrn Lang als einzige Überlebende des Piratenangriffs in den Hafen von Quanzhou ein. Nachdem er sich von Herrn Lang verabschiedet und noch einmal bedankt hatte, machte Zhuowu sich auf den Weg in seine Heimatstadt Jinjiang, die südlich von Quanzhou an der Mündung des Jin-Flusses lag, und traf dort am frühen Nachmittag ein. Der Wohnsitz seiner Familie lag nicht weit vom nördlichen Stadttor entfernt in einer von der Hauptstraße abgehenden ruhigen Nebengasse. Die von einer hohen weißen Mauer umgebene und von Süden nach Norden ausgerichtete Wohnanlage bestand aus mehreren einstöckigen weißen Gebäuden, deren Dächer mit dunklen Dachziegeln bedeckt waren, und teilte sich in drei hintereinanderliegende, durch Mauern voneinander abgetrennte Höfe auf. Im vorderen Hof gleich hinter dem Eingangstor lagen die Küche mit dem Schlafraum der Köchin sowie die Schlafräume für den Diener und die Dienerin der Familie. Außerdem gab es Schuppen für Vorräte und Gerätschaften und einen Brunnen vor dem Küchengebäude. Wenn man den vorderen Hof in der Mitte durchschritt, gelangte man durch ein Tor in den mittleren Hof, in dem sich an beiden Seiten die Wohn- und Schlafräume von Zhuowu und seiner Ehefrau sowie die Zimmer seiner beiden Kinder befanden. Im hinteren Hof wohnten Zhuowus Vater und seine Stiefmutter. Abgeschlossen wurde der letzte Hof an der Nordseite durch das Hauptgebäude, das auch zum Empfang von Gästen genutzt wurde. Nur dieses hatte ein ausladendes Walmdach. Alle anderen Gebäude besaßen einfache Satteldächer. An den hinteren Hof schloss sich ein kleiner Garten an mit Banyanbäumen und Zypressen, Magnolien und Kamelien und einem Bambushain. Ein viereckiger Pavillon mit Zeltdach, zu dem ein schmaler gewundener Pfad aus Steinplatten führte, erhob sich an der rechten Seite im hinteren Winkel des Gartens, neben einer Gruppe bizarr geformter, ein Gebirge nachbildender grauweißer Kalksteine. Zhuowu und sein Vater hielten sich dort gerne auf, um Tee zu trinken und miteinander zu reden. Der Garten konnte durch eine kleine Tür in der Mauer neben dem Hauptgebäude betreten werden. Die Wohnanlage war nicht luxuriös und einige der Gebäude hatten eine Renovierung nötig. Putz blätterte von ihren weiß gekälkten, inzwischen mit zahlreichen dunklen Flecken überzogenen Fassaden. Und die ehemals leuchtenden Farben der Holzbalken der Dachkonsolen des Hauptgebäudes waren an vielen Stellen blass geworden.

      Kaum hatte Zhuowu das Eingangstor passiert und den vorderen Hof betreten, kam der alte Diener Longting auf ihn zu. Er war über sechzig Jahre alt und schon seit mehr als drei Jahrzehnten im Dienst der Familie Li. Sein Haar war weiß wie Schnee und sein Gesicht von Falten zerfurcht.

      „Herr Li, da seid Ihr endlich. Alle haben sich Sorgen gemacht. Wir haben Euch schon vorgestern erwartet ...“

      Dann drehte er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in Richtung des mittleren Hofes um und rief mit lauter Stimme: „Ehrwürdiger Herr Li. Euer Sohn ist angekommen.“

      Zhuowus Vater eilte herbei. Erleichterung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Li Baizhai hatte gerade die fünfzig überschritten. Sein Aussehen wies viel Ähnlichkeit mit dem seines Sohnes auf. Auch er war groß gewachsen und besaß die gleichen feinen Gesichtszüge wie Zhuowu. Sein volles Haar war schwarz und zeigte noch keine graue Strähne.

      „Zhuowu, endlich. Warum kommst du erst heute?“

      „Es gab einen kleinen Zwischenfall“, untertrieb sein Sohn.

      „Einen Zwischenfall?“

      „Unser Schiff wurde von Piraten überfallen.“

      „Piraten?“

      Li Baizhai machte ein bestürztes Gesicht. Auch der alte Longting starrte Zhuowu erschrocken an.

      „Zum Glück wurde ich von der Küstenwache aus Putian befreit. Aber dass ich noch lebe, habe ich vor allem einem Kaufmann aus Fuzhou zu verdanken. Der hat wirklich Mut und Geistesgegenwart in dieser brenzligen Situation bewiesen. Aber davon kann ich später noch erzählen.“

      Er umarmte seinen Vater und beide gingen in den mittleren Hof. Dort wartete schon der Rest der Familie, seine Ehefrau Meihua, eine geborene Huang, mit den beiden Kindern, dem Sohn Ganghao, der jetzt fast sechs Jahre alt war, und der einjährigen Gongyi sowie seine Stiefmutter Frau Dong, eine schlanke Frau von vierzig Jahren, die sich durch große Gutmütigkeit auszeichnete und ihren Enkelkindern in besonderer Weise zugetan war. Nachdem Zhuowu alle herzlich begrüßt und seine Kinder auf den Arm genommen und liebevoll gekost hatte, schlug sein Vater vor, in den Garten zu gehen, um im Pavillon Tee zu trinken und ihm etwas zu essen zu servieren.

      „Du musst hungrig sein“, sagte er zu seinem Sohn.

      Herr Li erteilte Longting den Auftrag, in die Küche zu gehen, um Tee zu kochen und der Köchin Frau Lang zu sagen, dass sie etwas Gutes zum Essen zubereiten sollte. Außerdem trug er ihm auf, mit den Speisen auch einen Krug Huangjiu, Gelben Wein, zu bringen. Dann lenkten alle ihre Schritte in Richtung Garten. Zhuowu ging neben seinem Vater, die beiden Frauen folgten mit den Kindern. Ganghao, ein blasser und schmächtiger Junge, der etwas schwächlich wirkte, ging still an der Hand seiner Großmutter, die kleine Gongyi wurde von ihrer Mutter getragen. Nachdem sie sich im Pavillon niedergelassen hatten, erschien kurze Zeit später die Dienerin Lanxing, ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, das erst kurze Zeit bei der Familie Li angestellt war, sich aber zur Zufriedenheit aller sehr geschickt anstellte, und brachte das Teetablett und das Essgeschirr. Sie stellte alles auf den großen runden Steintisch in der Mitte des Pavillons. Als Zhuowu ihr freundlich zulächelte, senkte sie die Augen, errötete und entfernte sich hastig.

      Nach allem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, war Zhuowu froh, wieder bei seiner Familie zu sein. Er betrachtete seine Kinder, den blassen, ruhig und brav neben seiner Großmutter hockenden Ganghao und die kleine Gongyi, die auf einer Decke saß und ununterbrochen brabbelte, und seine still am Tisch sitzende Ehefrau, die ihn von Zeit zu Zeit mit scheuen Augen ansah. Sie war vier Jahre jünger als er, und seit fast sieben Jahren waren sie miteinander verheiratet. Die Ehe war, so wollte es der Brauch, von seinem Vater und ihrem Vater arrangiert worden. Die beiden Eheleute waren sich zum ersten Mal an ihrem Hochzeitstag begegnet. Meihua war schlank mit tiefschwarzem Haar, das lang herunterfiel, und einem feinen hellen Gesicht, in dem der kleine rote Mund und die dunklen, wie Mandeln geformten Augen besonders auffielen. Zhuowu hatte sie von Anfang an gemocht, aber sie war still und zurückhaltend. Es gab nur wenig, über das sie miteinander reden konnten, meist waren es Angelegenheiten, die mit der Familie zu tun hatten, vor allem mit den Kindern. Manchmal hatte Zhuowu das Gefühl, dass zwischen ihnen eine Kluft war, etwas Trennendes, das sie nicht wirklich zueinanderkommen ließ, und dann erschien sie ihm wie ein Fremde.

      Etwas