Anning
安寧
Die milde frische Luft auf dem Nachhauseweg vom Bankett tat Zhuowu gut. Auf dem Hinweg war er an einem Park vorbeigekommen. Er entschied sich, seine Schritte dorthin zu lenken, denn in den Straßen herrschte auch um diese späte Zeit noch immer ein reges Treiben. Als er den Park erreicht hatte, ging er durch ein großes Ehrentor, das den Eingang markierte und dann einen breiten von Laternen beleuchteten Weg entlang. Nachdem er tiefer in den Park eingedrungen war, bemerkte er eine größere Menschenmenge, die sich vor einem Teich angesammelt hatte. Die Leute redeten aufgeregt durcheinander und zeigten auf die schwarze Wasseroberfläche, in der sich der hoch am Himmel stehende bleiche Mond spiegelte, und auf etwas Längliches, das ausgestreckt am Ufer lag. Zhuowu trat näher heran.
„Ist etwas passiert?“ fragte er einen der Herumstehenden.
„Da liegt einer am Ufer. Er ist ertrunken. Selbstmord, heißt es. Einige haben gesehen, wie er sich in das Wasser gestürzt hat. Sie haben noch versucht, ihn zu retten und ans Ufer gezogen. Aber es war zu spät.“
Zhuowu sah nun, dass das Längliche am Ufer ein lebloser menschlicher Körper war. Er beobachtete, wie Polizisten den Leichnam untersuchten und mit den Leuten sprachen, die direkt am Ufer standen. Mehrere Laternen wurden aufgestellt und angezündet. In deren Licht konnte Zhuowu einen deutlicheren Blick auf die ertrunkene Person werfen. Er erkannte, wer es war. Er sah das Gewand und, als der Körper umgedreht wurde, das Gesicht. Es war Anning. Entsetzen stieg in ihm auf. Wie konnte das passieren? fragte er sich. Bilder von gestern Abend tauchten vor ihm auf. Er sah einen gelösten und zuversichtlichen Anning, einen Anning, wie er hätte sein können. Aber dann war da wieder der niedergedrückte und verzweifelte Anning, der einen so hoffnungslosen Eindruck gemacht hatte. Zhuowu fragte sich, ob er selbst eine Mitschuld an dessen Tod trug. Vielleicht habe ich ihn zu sehr unter Druck gesetzt, als ich ihn gegen seinen Vater aufgewiegelt habe, dachte er. Aber dann wies er diesen Gedanken von sich. Anning hätte sich wohl nie gegen seinen autoritären Vater aufgelehnt. Er hätte sich ihm weiter unterworfen und wäre daran früher oder später zugrunde gegangen. Sein Vater hat ihn auf dem Gewissen …
Zhuowu wurde von einer lauten Stimme aus seinen Gedanken gerissen.
„Kennt jemand den Toten?“ rief einer der Polizisten.
Zhuowu ging langsam mit schweren Schritten in Richtung Ufer. Sein Gesicht war kreideweiß. Die Herumstehenden starrten ihn an und wichen zur Seite, um ihm Platz zu machen. Dann stand er vor dem Polizisten. Es fiel ihm nicht leicht zu sprechen.
„Ich kenne ihn ... Er heißt Wang Anning und kommt aus Zhangzhou … Er hat am Provinzexamen teilgenommen … und wohnte wie ich im Gasthaus Phönix und Drache.“
„Wieder ein gescheiteter Examenskandidat, der sich umgebracht hat“, seufzte der Polizist, „das ist nicht das erste Mal.“
Einer der Polizisten begleitete Zhuowu später zum Gasthaus, um Annings Sachen zu holen. Als der Wirt erfuhr, was geschehen war, rief er empört:
„Was ist das nur für ein System, das seinen jungen Menschen so etwas antut. Diese Prüfungen sind doch die Hölle. Wehe, wenn du nicht bestehst ... Immer wieder hört man, dass sich gescheiterte Kandidaten das Leben nehmen oder daran zerbrechen. Das kann doch nicht richtig sein ... Da lobe ich mir mein schlichtes und bescheidenes Leben als Wirt. Ohne große Bildung und hohes Ansehen. Ohne nach Ruhm und Ehre jagen zu müssen ...“
Zhuowu hörte dem Wirt traurig und schweigend zu. Er konnte ihm nur zustimmen.
In der Nacht träumte Zhuowu von Anning. Er sah, wie dieser nachts mit einem Boot zur Mitte eines einsamen Sees hinausruderte, und zwar bis zu der Stelle, an der sich der helle Mond auf der schwarzen Wasseroberfläche spiegelte. Dort angekommen legte Anning die Ruder aus den Händen, stand langsam auf und breitete die Arme aus. Er betrachtete die Mondspiegelung unter sich, und es war, als würde sich ein Lächeln über sein Gesicht legen. Dann stieg er mit den ausgebreiteten Armen auf den Bootsrand und ließ sich in das dunkle Wasser fallen, das ihn aufnahm und sich schon bald über seinen Körper schloss. Zurück blieben auf dem See nur das leere Boot und die zitternde Spiegelung des Mondes.
Kapitel 3: Das Jahr 1552
Wokou
倭寇
Einige Tage später bestieg Zhuowu im Hafen von Fuzhou am frühen Morgen das Schiff, das ihn in eineinhalb Tagen die Küste entlang nach Quanzhou bringen sollte. Es war eine große Dschunke mit stumpfem Heck, stumpfem Bug und vier Masten. Sie diente dem Transport von Waren zwischen Fuzhou und Quanzhou, nahm aber auch Passagiere auf. Von den wenigen Mitreisenden fiel Zhuowu ein gut gekleideter Mann auf, der etwas älter als er selbst sein mochte. Dieser beobachtete von Deck aus das Beladen des Schiffes und sprach zwischendurch mit dem Kapitän. Zhuowu vermutete, dass es sich um einen Kaufmann handelte. Nachdem alle Waren im Schiffsbauch verstaut worden waren, wurden die mächtigen Segel aus gelblichen Bambusmatten gesetzt. Das Boot verließ langsam den Hafen und fuhr dann, schnell Fahrt aufnehmend, in Richtung Süden immer in Sichtweite der zerklüfteten Küste. Das Wetter war angenehm, die Sonne schien von einem fast wolkenlosen blauen Himmel, und es blies ein nicht zu kräftiger Wind. Zhuowu beobachtete, auf die Reling gestützt, eine Zeitlang den nicht weit entfernten Küstenstreifen, die leuchtenden weißen Sandstrände und schmalen dunklen Felsbuchten, die sich im Hintergrund vom hellen Horizont abhebenden dunkelblauen Bergketten und die Wälder aus tiefgrünen Zypressen oder aus Banyanbäumen mit ihren unregelmäßig geformten Stämmen und weit ausladenden Ästen. Plötzlich wurde er von der Seite angesprochen.
„Ihr seid ein Akademiker. Habt Ihr am Provinzexamen teilgenommen?“
Zhuowu wandte sich überrascht dem Sprecher zu. Es war der gut gekleidete Herr, der ihm schon im Hafen aufgefallen war.
„Richtig“, erwiderte er knapp.
Eigentlich war er nicht abgeneigt, etwas Unterhaltung zu haben. Das würde die Reise verkürzen. Der Fremde war ausgesprochen gepflegt und hatte ein schönes Gesicht. Er wirkte selbstbewusst und entschlossen.
„Ich hoffe, Ihr seid erfolgreich gewesen ... Aber Ihr macht keinen deprimierten Eindruck. Dann darf ich wohl gratulieren.“
Zhuowu musste über diese Feststellung lachen.
„Und Ihr seid ein Kaufmann, nicht wahr?“
„Das ist richtig und war auch nicht schwer zu erraten. Schließlich habt Ihr im Hafen beobachtet, wie ich das Einladen der Waren überwacht habe. Ich gehöre zu einer Kaufmannsfamilie in Fuzhou. Mein Name ist Lang Hufeng.“
„Ich bin Li Zhuowu aus Jinjiang. Meine Vorfahren waren auch Kaufleute. Sie waren vor allem im Überseehandel aktiv.“
„Eine Kaufmannsfamilie Li aus Jinjiang ist mir nicht bekannt. Meine Familie ist schon seit vielen Generationen im Geschäft. Eigentlich kennen wir alle wichtigen Händlerfamilien der Küstenstädte von Fujian.“
„Wir hießen ursprünglich Lin.“
„Lin aus Jinjiang … Gehört Ihr etwa zu den Nachfahren des berühmten Lin Lü?“
„Genau.“
„Das ist ja wirklich interessant. Dann haben unsere Vorfahren miteinander Handel getrieben … Lin Lü war zu seiner Zeit einer der erfolgreichsten Kaufleute im ganzen Reich und einer der reichsten.“
Von dem Reichtum der Vorfahren profitierte Zhuowus Familie auch heute noch. Zwar war das große Vermögen im Laufe der Zeit beträchtlich zusammengeschmolzen. Aber es gab einige Ländereien und kleinere Werkstätten, die der Familie gehörten und die den Mitgliedern zwar keine Reichtümer einbrachten, aber dafür sorgten, dass sie ein auskömmliches, wenn auch bescheidenes Leben führen konnten. Auf dieser Grundlage war es Zhuowu möglich gewesen, sein Studium zu finanzieren.
„Wir