Die Mächtigen der Erde lieben es bekanntlich von jeher, inkognito unter einfachen Menschen zu wandeln und ergötzen sich an einfachen, unvorhergesehenen Abenteuern und Erlebnissen. Einem so freundlichen Empfange und dieser herzlichen Einladung vermochte Herr C... sich nicht zu verschließen, er konnte gar nicht anders als für dies eine Mal ausnahmsweise die Rigorosität seines Charakters zu verleugnen und ebenfalls liebenswürdig zu sein.
»Wir scheint,« so dachte er, »daß der Zufall mich hier mit zwei jungen exzentrischen Menschen zusammengeführt hat, die froh sind, für eine Weile aus Paris entschlüpft zu sein, und die hier in genialer Weise ihre Ferien zu verleben gedenken. Vielleicht sind sie amüsanter wie meine gewöhnliche Umgebung. Wir wollen sehen.«
»Meine jungen Freunde,« sagte er lächelnd (und mit der gütig herablassenden Miene eines Königs, der bei armen Hirten eingekehrt ist): »Ich liebe das Natürliche – und ich nehme euere Einladung an.«
Man setzte sich um den Tisch, den Chloe so schnell wie möglich gedeckt hatte, und das Mahl begann sofort.
»Ach, das Natürliche,« meinte Daphnis mit einem tiefen Seufzer, »es ist nur deswegen, daß wir hierher gekommen sind, wir suchen es eifrigen Herzens – aber ach! bisher stets vergebens.«
Herr C... sah die jungen Leute ganz erstaunt an. »Wie meint ihr das, meine jungen Freunde? Das Natürliche umgibt euch doch. Ihr seid hier von der Natur mit ihren reinen Freuden und ihren unverfälschten Genüssen umringt. Seht doch nur diese ausgezeichnete Milch ... die frischen Butterbrote!«
»Ach,« sagte Chloe, »das ist wahr, schöner Fremdling, die Milch läßt sich trinken: denn sie ist, wie ich glaube, mit ganz vortrefflichem Hammelgehirn bereitet.«
»Was die Butterbrote betrifft,« murmelte Daphnis, »so wissen Sie selbst, daß man mit dieser neuen Hefe niemals sicher ist ... aber was die Butter angeht, so gebe ich zu, daß ich sie für leidlich gute Margarine halte. Wenn Sie aber Käse vorziehen sollten, so bitte ich Sie, ein Stückchen von diesem hier versuchen zu wollen, man hat mir fest versichert, daß kaum mehr wie ein Drittel Talg und Kreideteile darin enthalten sind. Es ist eine neue Erfindung.«
Bei diesen Worten prüfte Herr C... seine jungen Gastfreunde aufmerksam.
»Und ... ihr ... ihr heißt ... Daphnis und Chloe?«
»O, das find nur unsere Beinamen,« antwortete Daphnis. »Unsere Familien, die früher recht wohlhabend waren, wohnten in Paris in den Champs-Elysees; sie hatten aber das Unglück, ihr Geld zu verlieren, und wurden dadurch gezwungen, ihre Zuflucht zur Arbeit zu nehmen. Ich hatte Jura studiert und hoffte mit der Zeit als Advokat mein Brot zu verdienen. Chloe, die auch Studentin war, und sogar schon das Doktorexamen bestanden hatte, entschloß sich, Hebamme zu werden, als uns ganz unverhofft eine kleine Erbschaft zufiel, die es uns gestattete, uns gleich zu vereinigen, ohne erst auf Kundschaft zu warten. Wir haben uns dann in diesen alten Wald zurückgezogen, um ganz nach unserem Geschmacke zu leben, das heißt, eine einfache, natürliche Lebensweise zu führen, wie der griechische Schriftsteller Longus sie so schön schildert ... Wir finden aber doch, daß das heutzutage sehr schwer ist ... Was, Sie essen schon nicht mehr, lieber Fremdling? Wollen Sie vielleicht zwei Spiegeleier haben? Die sind grade in dieser Zeit sehr beliebt, Sie wissen doch, daß von Amerika aus alle Tage mehr als drei Millionen künstlicher Eier importiert werden? Sie werden in schwefelsaures Wasser getaucht, wodurch die Schale entsteht. Sie sind im Augenblick fertig. Nachher wollen wir Kaffee trinken. Er ist ausgezeichnet ... Er besteht hauptsächlich aus verfälschter Zichorie erster Qualität, wie solche in Paris nach einer offiziellen Schätzung alle Tage für achtzehn Millionen Franken verkauft wird. Weisen Sie ihn nicht zurück. Wir geben ihn gern und ohne Umstände.«
Herr C..., dessen Neugierde erregt war, versuchte in geschickter Weise der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, um dadurch, ohne unhöflich zu erscheinen, das Anerbieten seiner Gastfreunde unberücksichtigt zu lassen.
»Eine kleine Erbschaft, sagen Sie?« frug er mit dem Ausdruck herzlichster Teilnahme, »wirklich, ich sehe, daß Sie Trauerkleider tragen, meine lieben Kinder.«
»Ja, wir tragen sie in Erinnerung an unsern guten Onkel Polemon,« seufzte Chloe, ein trockenes Tränchen abwischend. »Polemon,« sagte Herr C..., in seinem Gedächtnis suchend, »der Name ist mir doch bekannt? ach ja, hieß nicht zur Zeit der Legenden der tapfere Rotweintrinker, der es mit Silen hätte aufnehmen können, so?«
»Derselbe,« seufzte Daphnis, »er war wirklich ein würdiger Apostel des Bacchus. Er liebte ungefälschten, natürlichen Wein, und da hat er sich ein Fäßchen des berühmten ›Weins der Weinbergsbesitzer‹ kommen lassen und Sie wissen?«
»Ja, schöner Fremdling,« fuhr Chloe mit ihrer musikalisch und etwas dozierend klingenden Stimme fort, »ein Fäßchen von dieser verpantschten, verfälschten Mischung, die so reichlich mit Arsenik durchtränkt ist, daß bereits vier- oder fünfhundert Leute daran zugrunde gegangen sind ... Es ist dieser großartige Wein, den unsre Arbeiter und kleinen Leute in Frankreich trinken, während sie dabei frohen Herzens das berühmte Liedchen singen:
»In Frankreich nur, in England nicht.
Gibt's solchen Labetrank!
Und dafür sag dem Himmel ich
Aufrichtig Lob und Dank.«
»So geschah es,« nahm Daphnis die Rede wieder auf, »daß an demselben Abend, wo er seinen Wein auf Flaschen gezogen und ihm sehr reichlich zugesprochen hatte, der Allerhöchste unsern Onkel Polemon zu sich rief. Der unglückliche Greis hat vorher noch sehr gelitten, da er das Opfer qualvoller Koliken geworden ist... Er hat uns dann etwas Geld hinterlassen.«
»Aber, Verzeihung, Sie rauchen vielleicht, lieber Fremdling? Wollen Sie eine dieser Zigarren versuchen? Sie sind wirklich nicht schlecht und sehen besonders sehr gut aus. Das Deckblatt besteht aus einem Papierstreifen, der in ein Absud von Nikotin getaucht wurde, das man aus den Stummeln bester Havannazigarren bereitet hat... Sie wissen doch, daß in Frankreich jeden Monat zwei bis drei Millionen solcher Zigarren verkauft werden? Diese hier sind prima Qualität.«
Herr C..., der aus diesen letzten Worten einen leichten Spott über die Fortschritte unserer Industrie heraus zu hören glaubte, hielt es an der Zeit, allmählich zu seiner offiziellen Miene zurückzugreifen.
»Danke«, sagte er. »Aber – wenngleich es nicht geleugnet werden kann, daß sich unsre moderne Industrie mit der Fälschung vieler Produkte beschäftigt, so gibt es, wenn man sich danach umsieht, doch eine Menge von Dingen, die man ganz unverfälscht genießen kann. Ganz abgesehen davon, was machen junge Leute in eurem Alter sich aus den Tafelfreuden? Besonders hier in dieser herrlichen Natur, umgeben von diesen schönen, mehr als hundertjährigen Bäumen! Der köstliche Duft des Waldes – –«
»Was meinen Sie, lieber Fremdling,« antwortete Daphnis, große Augen machend. »Was, wissen Sie das wirklich nicht? Aber diese köstlichen Eichen, diese hohen Lärchenbäume, deren Schatten der Liebe von Königen Zuflucht geboten, haben in einer gewissen strengen Frostnacht des letzten Winters fünf oder sechs Grad Kälte mehr bekommen, wie ihre Wurzeln ertragen konnten. (Die Untersuchungen der Forstinspektoren haben dies zur Genüge erwiesen.) Sie sind daher in Wirklichkeit tot! Sehen Sie nur, sie tragen bereits den offiziellen Kerbschnitt, der sie dazu bestimmt, im nächsten Jahre abgehauen zu werden. Sie werden in den Kaminen der Minister ihr Ende finden. Sie haben sich zum letzten Male mit Laub bedeckt: sie sind dem Tode verfallen. Jedem Kenner genügt es, nur einen Blick auf ihre Rinde zu werfen, um zu erkennen, daß der Saft nicht mehr in die Äste steigt ... So daß, während wir uns scheinbar unter Waldesschatten befinden, wir in Wirklichkeit von vegetabilischen Gespenstern, Baumphantomen umgeben sind ... Die alten Bäume sterben ab ... Sie müssen den jungen Platz machen.«
Herrn C...s Stirn verdüsterte sich; durch die hohen Äste der Bäume draußen rieselte ein kalter, kleiner Regenschauer herab.
»Wirklich,« murmelte er, »ich glaube mich daran zu erinnern. Aber übertreiben wir nichts