Bei diesem, unerwarteten Schauspiele zitterte Sylvabel.
»Was,« rief sie ganz erschrocken, »du machst dieses arme Tier für deine eigne Ungeschicklichkeit verantwortlich und tötest es ohne weiteres?«
»Es tut mir selbst leid, denn ich liebte ihn sehr,« antwortete ruhig Gabriel. »Aber ich bin einmal so, ich kann es nicht vertragen, daß etwas gegen meinen Willen geschieht, ohne in heftige Aufregung zu geraten; wäre ich Soldat geworden, so würde ich sicher in den ersten vierundzwanzig Stunden füsiliert worden sein. Das ist ein Fehler, der schon in meiner Kindheit zu sehr stürmischen Szenen Veranlassung gab – ich habe bis zum heutigen Tage vergebens gesucht mich zu bessern. Dir zuliebe will ich es indessen noch einmal versuchen.«
Sylvabel spielte mit ihrer Reitpeitsche und versank in träumerisches Schweigen.
Man ritt weiter. Gabriel plauderte von den gleichgültigsten Dingen und schien das kleine Begebnis vergessen zu haben. Sie blieb schweigsam und warf nur hier und da ein kurzes Wort ein.
Ungefähr eine Stunde später flog gerade vor ihnen ein Feldhühnervolk auf. Gabriel legte an, zielte, schoß, ohne daß eins der Tiere auch nur eine Feder verlor.
»Wahrhaftig,« brummte er leise, aber mit sehr ruhiger Stimme, »das ist unerträglich! Diesmal ist meine gemeine Stute schuld daran, denke dir nur, sie hat grade in dem Augenblick, wo ich anlegte, einen Sprung gemacht.«
So sprechend zog er einen Revolver aus seiner Satteltasche, setzte den Lauf kaltblütig an das Ohr seines Pferdes und schoß ihm den Schädel auseinander. Mit einem graziösen Satz abspringend, verhinderte er den jähen Fall des Tieres, das nach ganz kurzem Todeskampfe ohne Bewegung langsam niedersank.
Sylvabel riß ihre großen blauen Augen weit auf.
»Aber, um Gottes willen, was fällt dir denn ein? Das ist ja Wahnsinn! Was fällt dir ein, Gabriel, ein so schönes Tier zu töten – ein Rassepferd – und nur, weil du keins von den Feldhühnern getroffen hast?«
»Ich beklage es tief, Sylvabel. Indessen glaube ich dir vor wenig Minuten im Vertrauen mitgeteilt zu haben, an welcher angeborenen Schwäche ich leide. Ich kann dir nur wiederholen, daß es über meine Kraft geht ohne Protest auch nur die kleinste Widerwärtigkeit zu ertragen. Piqueur! Euer Pferd, Ihr werdet zu Fuß nach Hause gehen. – Wollen wir nun heimkehren?«
Er schwang sich in den Sattel und sie lenkten nun die Pferde dem Schlosse zu.
»Wirklich, mein Freund,« murmelte Sylvabel, »mir scheint, daß die magischen Eigenschaften deiner Verbenenzweige mich sehr im Stiche gelassen haben! Hältst du mir so dein Versprechen, mir zuliebe deinen jähzornigen Charakter zu zügeln?«
»Dieses Mal,« antwortete der junge Mann ruhig, »war ja allerdings die Macht der Gewohnheit größer als die meiner guten Vorsätze. Aber ich werde in Zukunft mich mehr zu beherrschen wissen. Ja, um dir zu gefallen und um deine Gunst zu erringen werde ich mich bestreben – wenn auch nicht geduldig und sanft bis zur Teilnahmlosigkeit, so doch zu versuchen, einigermaßen Herr meines Jähzornes zu werden.«
Gabriel gab diese Erklärung mit eiskalter Höflichkeit und Ruhe ab. Sylvabel du Plessis le Houx vermochte es nicht ein Wort der Entgegnung zu finden. Schweigend ritt das junge Paar nebeneinander dahin und man erreichte Fonteval, als die ersten Schatten des Abends sich herabsenkten.
* * *
Das Abendessen verlief in reizendster Weise. Die Schloßherrin vergaß (wahrscheinlich aus Unachtsamkeit), als sie sich in ihr Zimmer zurückzog, den Riegel vor die Tür zu schieben.
Als dann gegen fünf Uhr morgens, als schon der bläuliche Schein der Nachtlampe in dem aufsteigenden rosigen Lichte des nahenden Morgens verblaßte, das junge Paar ganz berauscht und erschöpft von den Freuden der Liebe einander zärtliche Worte und Geständnisse zuflüsterte, blickte Sylvabel ihren Gatten in seltsam forschender Weise an und sagte dann plötzlich ganz leise:
»Gabriel, ein Tag hat dir genügt, um mich zu erobern, denn nun bin ich ganz dein. Glaube indessen nicht, daß es das Opfer dieser beiden armen Tiere ist, über das ich im stillen gelächelt habe, wodurch du mich besiegt hast. Nein, es geschah vielmehr, weil ein Mann, der die Festigkeit hat, den Rat eines erprobten klarsehenden Freundes zu befolgen – ohne während eines Tages und einer solchen Nacht wie diese, sich in Gegenwart derer, die er liebt und die ihn leiden machte, auch nur einen Augenblick zu verraten, dadurch beweist, daß er selbst über diesem Rate steht, und daß er einen festen, stolzen Charakter hat, der der Liebe wert ist ... Du kannst das wohl unter den Dankesbrief schreiben, den du zweifellos deinem Onkel und Freund, Baron de Linville nach Schweden zu senden versprochen hast.«
Die Liebe zum Natürlichen
Der Mensch kann alles erfinden, nur nicht die Kunst glücklich zu sein.
Napoleon Bonaparte
Bei einem seiner Morgenspaziergänge im Walde von Fontainebleau, die Herr C... (das aktuelle Oberhaupt des Staates), schon bei Sonnenaufgang zu machen pflegte, verirrte er sich in eine Art von Tal, das in der Richtung nach Apremont zu gelegen war.
Wie immer zwar einfach, aber mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, in rundem Hut, zugeknöpftem Rock, war sein Auftreten ein so bescheidenes, daß keiner in ihm den Präsidenten der Republik vermutet haben würde. Er machte vielmehr den Eindruck eines Touristen, der sich ganz dem Reize der Natur hingibt.
Während er so in Gedanken verloren, und ohne des Weges zu achten, dahinschritt, bemerkte er plötzlich, daß er sich vor einem ziemlich geräumigen Bretterhäuschen befand, das ganz freundlich aussah und zwei Fenster mit grünen Läden hatte. Näher kommend, erkannte Herr C..., daß die einzelnen Planken dieser seltsamen Wohnung mit fortlaufenden Nummern bezeichnet waren, und daß er sich vor einer Art von Kirmesbude befand, wie fahrend? Leute sie aufzuschlagen pflegen. Über der Türe standen mit großen weißen Buchstaben die Namen:
»Daphnis und Chloe«
Diese Aufschrift überraschte ihn. Sie erregte seine Neugierde, und unwillkürlich lächelnd, ohne im mindesten zu beabsichtigen, die Bewohner dieser Eremitage stören zu wollen, klopfte er leise und höflich an die Türe.
»Herein,« riefen gleichzeitig zwei frische jugendliche Stimmen aus dem Innern des Häuschens.
Er drückte die Klinke nieder, die Türe öffnete sich, während ein heller, durch die Bäume gleitender Sonnenstrahl, ihn und das Zimmer der kleinen idyllischen Wohnung freundlich beleuchtete.
Als Herr C... die Schwelle überschritten, sah er sich in Gegenwart eines jungen Mädchens und eines noch ganz jungen Mannes, mit blondem, gelockten Haar, dessen feingeschnittene Züge an eine griechische Medaille erinnerten; in dem Blick seiner hellen Augen lag ein fröhlich spottender Ausdruck, den man bei den Bewohnern der Normandie öfter findet. Das reizend naive Gesicht des jungen Mädchens zeigte ein reines Oval und war von schönen braunen Haarflechten umrahmt. Sie trugen beide Trauerkleider, die von bäuerlichem Stoffe hergestellt und von ziemlich plumper Machart nur durch die Grazie ihrer Person einigermaßen erträglich erschienen. Sie waren beide wirklich reizend, und selbst ihr ein wenig artistisches Aussehen war seltsamerweise nicht unangenehm.
Der Chef des Staates, der eben eine ganze Reihe von Dienstreisen absolviert und dabei nur mit Präfekten, Unterpräfekten und Bürgermeistern verkehrt hatte, fühlte sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, sehr angenehm davon berührt, endlich mal so ganz andre Gesichter vor sich zu sehen.
Daphnis stand an einen ländlichen Tisch gelehnt, während die reizende Chloe auf einem eisernen Bettchen neuesten Systems saß, das mit einer Seegrasmatratze, groben, aber weißen Bettüchern und zwei Kopfkissen ausgestattet war. Drei geflochtene Strohstühle, einige Haushaltungsgeräte, Teller und Tassen, Imitationen nach alten Mustern aus Limoges, sowie zwei aus dem Tische stehende, blitzblanke