Die richtige Chemie. Günter Wirtz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Wirtz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754184929
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an zu trinken. Nur mit Ach und Krach schaffte er sein Abitur. Studium? Asinus leo esse non potest! Sein Vater vermittelte ihm eine Arbeit, die ihn anödete, die er hasste. Er trank weiter, verlor seinen Job, zog aus. Depressionen, Klinikaufenthalte, Entzug. Beziehungen? Unfähig, sich zu binden. Schließlich die Ausbildung zum Krankenpfleger. Hier bei den Alten und Moribunden fühlte er sich unter seinesgleichen. Auch sie hatten schon so gut wie alles verloren.

      Timo drückte die Luft durch die Nadel. Ein kleiner Tropfen Morphium perlte daraus hervor, ein Anblick, der ihn jedes Mal faszinierte. Doktor Zink starrte ihn an, hustete, wurde ungeduldig, sein Blick flehender.

      Timo schaute ihm die Augen, dann auf die Nadel. Wie oft hatte er sich ausgemalt, sich für sein verkorkstes Leben an diesem Mann zu rächen. Er hatte ihn in seinen Träumen erwürgt, erschlagen, erstochen, verbrannt. Als er sich nun ausmalte, dass seine Rache noch viel grausamer ausfallen würde, lächelte er. Er würde seinen ehemaligen Lateinlehrer nicht töten, nein, er würde ihn die Qualen seines erbärmlichen Restlebens spüren lassen. Doch zuerst würde er sich ihm zu erkennen geben. Er sollte wissen, wer ihm die letzten Tage nun seinerseits zum Infernum machte. Timo würde ihm seinen Namen ins Gesicht spucken und ihm sein Leid ins Gewissen brennen.

      Doktor Zink stammelte irgendetwas vor sich hin, unverständliche Laute, aber Timo wusste, was sie bedeuteten: „Bitte, machen Sie schnell! Bitte, ich habe solche Schmerzen!“ Aber konnte ein dummer Esel das verstehen? Nein.

      „Erinnern Sie sich an mich, Herr Zink wie Blei? Asinus leo esse non potest! Ich bin es, der Esel. Der Esel, der zu dumm ist, ihnen eine Injektion zu verabreichen. Oh, jetzt habe ich das Morphium doch tatsächlich aus Versehen verspritzt. Ach, ich Esel, wie konnte das nur passieren? Das tut mir jetzt aber leid. Nein, eine weitere Spritze ist nicht drin. Wir führen hier streng Buch, wissen Sie. Eine Injektion pro Tag. Na, vielleicht morgen. Wenn ich dran denke. Ich bin ja so schusselig manchmal. Aber das schaffen Sie schon. Sie sind ja nicht aus Pappe, nicht wahr, Herr Zink? Sie sind doch ein Löwe. Leo est Leo!“

      Herr Zink wimmerte und krümmte sich wie ein Wurm. Timo schluckte. Die Spritze in seiner Hand zitterte. Ja, gerne hätte er ihm all dies ins Gesicht geschrien, aber er konnte nicht: Asinus leo esse non potest. Konnte ihn nur anstarren und dann, dann stieß er die Nadel in den Arm des Patienten und drückte langsam zu. Das Gesicht seines alten Lateinlehrers verklärte sich wie das eines Babys, nachdem es die Flasche bekommen hat. Dankbar blickten ihn die greisen Augen an. Da wurde auch Timos Blick weich und mit einem Mal fühlte er sich frei, frei und stark, hatte zum ersten Mal das Gefühl, ein Löwe zu sein.

      Die Geliebte

      Der Anrufbeantworter blinkte hektisch, während sie vollgepackt zur Haustür hereinschneite. Stöhnend legte sie die großen Einkaufstaschen auf die Telefonbank im Flur und pellte sich aus Handschuhen, Mütze, Schal, Wintermantel und Stiefeln, als ihr plötzlich einfiel, dass sie noch zwei weitere Taschen im Auto hatte, zog Stiefel und Mantel also wieder an, holte die vergessenen Pakete, zog Mantel und Stiefel wieder aus und schlüpfte in ihre Hausschuhe.

      „Geschafft!“, seufzte sie und ließ sich erschöpft auf die Bank fallen. Die Weihnachtseinkäufe waren erledigt, die Karten geschrieben, das Haus geputzt. Jetzt konnten die Feiertage endlich beginnen. Besonders stolz war sie auf das Geschenk für ihren Mann. Die Idee dazu war ihr erst gestern gekommen. Sie hasste sich dafür, alles auf den letzten Drücker zu erledigen, aber so war sie nun mal. Jedenfalls hatte sie ihn jetzt in ihrer Handtasche, den Gutschein für einen Tandemsprung mit dem Fallschirm. Einer von seinen geheimen Wünschen. Sie hatte allerdings einiges dafür hinblättern müssen und war heute hundert Kilometer gefahren, weil eine Zustellung per Post sie nicht mehr vor Heiligabend erreicht hätte. Zwei Stunden voller Schneeschauer, Stau und Hektik. Anschließend dann noch all die anderen Einkäufe. Sie wusste überhaupt nicht mehr, wo ihr der Kopf stand! Aber das war es ihr wert. Ha, Benni würde aus allen Wolken fallen!

      Aus dem Augenwinkel nahm sie erneut die blinkende Taste des Anrufbeantworters wahr. Mal hören, wer ihnen die erste Nachricht auf dem nagelneuen Apparat hinterlassen hatte! Sie drückte die Abruftaste und eine blecherne Stimme ertönte: „Sie haben eine neue Nachricht, heute, 14:30 Uhr.“

      Dann der Anrufer selbst: „Hallo Benni, schade, dass du nicht da bist. Na, dann bis später, Küsschen!“

      Herz und Atmung setzten gleichzeitig aus. Ihr schwindelte und sie lehnte sich gegen die Wand. Versuchte zu begreifen, was sie da gerade gehört hatte. Nach und nach wurde ihr die ganze Tragweite der Nachricht bewusst. Das war das Ende!

      Sie schluckte, überwand sich und hörte die Nachricht ein zweites Mal ab: „Hallo Benni, schade, dass du nicht da bist. Na, dann bis später, Küsschen!“

      Die Stimme war weiblich, keine Frage. Etwas aufdringlich, mit einem leichten erotischen Timbre, geradezu lasziv in ihrem melodischen Singsang. Wer war dieses Flittchen? Und wie kam sie dazu, ihren Mann „Benni“ zu nennen? Nur seine besten Freunde und sie selbst durften das! Gehörte die Fremde etwa auch dazu? War sie vermutlich gar keine Fremde für ihn? Die vertraute Anrede ließ keine andere Schlussfolgerung zu.

      Und dieses hingehauchte „Schade“, als denke sie dabei an irgendein gemeinsames Erlebnis, an ein intimes Gespräch, einen liebevollen Kuss, orgiastischen Sex?! Wie konnte er ihr das antun? Ihr und den zwei Kindern! Männer waren Schweine, das wusste sie, aber doch nicht ihr Benni! Der nicht mehr länger nur „ihr Benni“ war!

      Was hatte die Fremde, das sie selbst nicht hatte? Oh ja, sie konnte dieses Miststück direkt vor sich sehen: brunett, lange lockige Haare, höchstens dreißig, üppige Brüste, ordinär geschminkt, im prolligen Lederrock und bauchfreiem T-Shirt. Sogar gepierct war sie, im Bauchnabel und wer weiß, wo noch! Dazu ein puffiges Eau de Toilette, das allen signalisierte: Nimm mich! Diese billige Schlampe war das genaue Gegenteil von ihr, das wusste sie genau! Dass Benjamin auf so etwas Primitives reinfiel! Das hätte sie von ihm nicht gedacht! Nie!

      Allein schon dieses vulgäre „Na“. Na was? Na warte! Ja, Benjamin konnte was erleben! Und dabei hatte sie sich doch etwas so Originelles für ihn zu Weihnachten ausgedacht! Wütend zog sie den Briefumschlag mit dem Gutschein aus ihrer Handtasche, öffnete ihn und zerriss ihn in viele Stücke. Dabei zischte sie: „Na! Na! Na! Wie gefällt dir das, du Mistkerl?“

      Dem Na folgte „dann bis später.“ Sie hatten also schon ein Rendezvous! Klar, dass sie nicht Ort und Zeit nannte! Er wusste ja Bescheid, wusste, was später geschehen würde. Wie lange lief das schon mit diesem Luder? Wochen? Monate? Jahre? Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Dieses „bis später“ klang so verlangend, so lüstern, so frisch verliebt.

      Dabei war Benjamin ihr gegenüber gar nicht abweisend, im Gegenteil. Er umarmte sie, machte Scherze, schlief mit ihr. Alles schien zwischen ihnen in bester Ordnung zu sein.

      Wenn er ihr wenigstens deutlich machen würde, dass er sie nicht mehr liebte! Aber stattdessen hielt er die Fassade aufrecht! So ein verdammter Heuchler! Alles Betrug, alles Lüge, jedes Wort, jeder Blick, jeder Kuss!

      „Küsschen!“ Das war das Schlimmste! Das setzte dem Ganzen die Krone auf! Diese scheinbar harmlose Verniedlichung, wie ein flüchtig hingehauchter Gruß, sie verriet mehr als alles andere über dieses hinterhältige nymphomanische Biest, das ihren Mann gestohlen und ihr Leben zerstört hatte. Hinter den zum Küsschen gespitzten Lippen zeigte sich ihre gespaltene Schlangenzunge, die nach ihrem Mann schmachtete, und dahinter bleckte das Ungeheuer seine Reißzähne, die alles zerstörten, was ihr lieb und teuer war.

      Plötzlich hörte sie das Klimpern eines Schlüssels. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Benni …, Benjamin kam heim. Ihre verheulten Augen verengten sich zu Schlitzen. Das Schloss würde sie austauschen lassen. Es war doch wohl klar, dass er ausziehen musste. Ohne Kinder, das verstand sich von selbst! Konnte ja direkt zu seinem Betthäschen ziehen!

      Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und ordnete ihre zerrauften Haare. Nein, sie würde sich keine Blöße geben!

      Benjamin betrat den Flur mit einem freundlichen, nein, einem falschen Lächeln und trällerte ihr ein froh gelauntes „Kuckuck!“ entgegen. Kam wohl gerade erst wieder von dieser läufigen