Ja, das war es! Bestätigend tippte er den Bleistift auf die Tischplatte. Dann lehnte er sich lächelnd zurück. Das könnte gehen. Er und sie waren gleichermaßen vertreten, erst „ich“, dann „du“, dann „ich“ und „dich“ und schließlich mündete der Satz im synthetischen „Wir“. So harmonisch, wie er sich ihre Ehe vorstellte. Zudem kamen seine ernsten Gefühle deutlich zur Geltung. Aber die sprachliche Form? Zwei Mal das Verb „möchte“ und dann noch zwei „das“-Sätze. Moment mal! Schrieb man „das“ hier nicht mit Doppel-s? Der Duden bestätigte seine Zweifel. Zum Glück hatte er seinen Schnitzer bemerkt. Er korrigierte:
„Ich möchte dass du mich heiratest, denn ich liebe dich von ganzen Herzen und möchte dass wir für immer zusammen sind.“
Vorsicht, Kommasetzung! Hatte er noch nie gekonnt. Die Naturgesetze kannten keine Kommas. Der Duden gab Aufschluss. Also noch einmal:
„Ich möchte, dass du mich heiratest, denn ich liebe dich von ganzen Herzen, und möchte, dass wir für immer zusammen sind.“
Er betrachtete den Satz und stutzte erneut. Musste man „du“ in Briefen nicht groß schreiben? Duden, wo bist du/Du?
Aha, die neue Rechtschreibung überließ dem Schreiber die Wahl. Typisch Geisteswissenschaftler! Sollte er nun zur alten Schreibweise greifen und damit den Eindruck hinterlassen, er sei ein reaktionsunfähiges Element, das im Filtrat alter Regeln bade und nicht mit der Zeit gehe, oder sollte er seine progressive Bindungsfähigkeit unterstreichen, bei der allerdings die Respekt ausdrückende Großschreibung des Dus verloren ginge?
Nach Stunden des Grübelns entschied er sich schließlich für die Kleinschreibung: „du“ und „ich“ auf einer Stufe. Er musste selbstsicher auftreten, sich nicht vor ihr erniedrigen. Denn schließlich wollte sie einen emanzipierten Mann und keinen unterwürfigen Höflichkeitswauwau. Außerdem schuf die Kleinschreibung ein höheres Maß an Vertrautheit. Jawohl!
Nachdem diese Frage geklärt war, musste er nur noch die Wortwahl und den Satzbau variieren. Immer wieder strich und schrieb er, bis seine Schreibtischunterlage randvoll gekritzelt war. Schließlich nickte er zufrieden:
„Ich möchte, dass du mich heiratest, denn ich liebe dich von ganzen Herzen. Lass uns für immer zusammen sein!“
Ha, Goethe hätte es nicht besser machen können! Oder vielleicht doch? Irgendetwas fehlte noch – der metaphorische Knalleffekt, die poetische Kristallisation, der zündende Punkt auf dem I, der ihr Herz zum Schmelzen brachte. Nach drei schlaflosen Nächten hatte er ihn gefunden:
„Ich möchte, dass du mich heiratest, denn ich liebe dich von ganzen Herzen. Lass uns für immer zusammen sein und das Buch unseres Lebens fortan gemeinsam schreiben!“
Erschöpft und stolz betrachtete er das Destillat seiner bis zum Siedepunkt erhitzten Phantasie: „ ... das Buch unseres Lebens fortan gemeinsam schreiben.“ Dass ihm so etwas überhaupt eingefallen war. Für seinen Geschmack ziemlich schwülstig, aber darauf kam es nicht an. Was zählte, war sie, und sie würde es toll finden!
Der Rest war einfach. Er erstand ein großes Buch mit echtem Ledereinband und leeren Seiten. Die erste Seite verzierte er mit einem Foto: sie und er, Hand in Hand, am Ufer der Seine. Auf die dritte Seite schrieb er seinen Antrag in goldenen schwungvollen Lettern. Die weiteren leeren Seiten würden ihr gemeinsames Leben symbolisieren, das Buch, das sie fortan gemeinsam schreiben würden. Sie könnte es ja sogar als Tagebuch der besonderen Momente verwenden: Flitterwochen, Geburt der Kinder, Silberhochzeit. Er geriet ins Schwärmen. Ja, das war perfekt.
Drei Wochen später kam der große Moment. Er führte sie zum Essen aus, natürlich in ein Restaurant mit französischer Küche, anschließend zum Tanz in gediegener Atmosphäre. Vier Gläschen Champagner, drei Komplimente, zwei Umarmungen und einen Kuss später brachte er sie zu sich nach Hause und dort, im Schlafzimmer, erwartete sie die Überraschung. Der Boden und die Möbel übersät mit Rosenblättern, der Raum von Kerzen romantisch beleuchtet und genau in der Mitte des frisch bezogenen Bettes ein aufgeschlagenes großes Buch.
Sie ahnte, was das zu bedeuten hatte, und errötete wie in Säure getränktes Lackmuspapier. Dann schenkte sie ihm ihr bezauberndstes Lächeln, wippte verführerisch mit den Augenbrauen und griff nach dem Buch, als wäre es aus Meißner Porzellan. Strahlend begann sie seine Zeilen zu lesen, doch dann, von einem Moment auf den anderen, reagierte ihr Gesicht wie erhitztes Kupferblech. Ihre Stirn zog sich in schwarzblättrige Falten, und die hinter den Kontaktlinsen funkelnden Augen erinnerten plötzlich an zwei salzsäurebeträufelte Petrischalen.
„Von ganzen Herzen? Soll das ein Scherz sein?“
„Aber nein, wieso? Ich liebe dich doch von ganzen Herzen!“
„Von ganzem Herzen. Dativ, nicht Akkusativ! Nein!“ Sie ließ das Buch zu- und ihren Mund wieder aufschnappen: „Wer sich nicht einmal beim Heiratsantrag die Mühe gibt, sich in korrektem Deutsch auszudrücken, der wird sich in der Ehe erst recht keine Mühe geben. Und mit so einem Menschen möchte ich nicht das Buch meines Lebens zusammen schreiben.“
Sprach‘s, warf ihm die gemeinsame Zukunft vor die Füße und verließ ihn.
Er erstarrte, fühlte sich zu Eis kondensiert. Wie hatte er das nur übersehen können? Dativ! Er hatte den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen!
Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wechselte sein psychischer Aggregatzustand, und schließlich verdampfte sein Entsetzen zu einem Gemisch aus Einsicht und Erleichterung (Ei2Er4). Nein, es war sein bester Fehler gewesen. Bestimmte Stoffe gingen einfach keine Synthese ein, und manchmal bedurfte es eines kleinen experimentellen Versehens, um das herauszufinden.
Der Wolkensammler
Manchmal, früh am Morgen, wenn der Himmel in rötlichen Träumen vor sich hindöst, wenn Stadt und Menschen sich in Zeitlupe bewegen und der Fluss noch nicht von Schiffen durchpflügt wird, geschieht es, dass sich die Wolken im Rhein spiegeln.
Martin lehnt sein Fahrrad an das Brückengeländer und zieht eine kleine Kamera aus seiner fleckigen Jacke. Am Himmel schwebt eine Cirruswolke. Ihr Abbild kräuselt sich in dem leicht gewellten Strom. Sie trägt ihren Namen zu Recht, denkt Martin. Die längliche Form und die ausgefransten Ränder erinnern tatsächlich an eine Feder. Außerdem wirkt sie federleicht, wie aus Spinnfäden gewoben.
Martin hat einmal gelesen, dass die Indios in Peru für rötliche Wolken am Morgen einen eigenen Begriff haben: antawara. Das klingt so, wie die Wolke aussieht, weit, weich und im Begriff, sich in der Unendlichkeit aufzulösen: antawara.
Er zwingt sich, den Blick abzuwenden, da es gleich hell wird und er sich mit seiner Arbeit beeilen muss. Am anderen Ende der Südbrücke wird er fündig. Zwei Dosen, drei Bierflaschen aus Glas, vier große Plastikflaschen. Der überdachte Brückenturm, in dem die Wendeltreppe nach unten zum Rheinufer führt, ist ein beliebter Platz für nächtliche Gelage. Auf den Wiesen der Rheinauen erspäht er weiteres Pfandgut. Heute ist ein ergiebiger Tag. Die Müllsäcke an den Lenkerseiten seines Fahrrads sind schon fast gefüllt. Gleich noch schnell zum Getränkemarkt nach Köln-Riehl, bevor die Flaschenmafia ihn hier erwischt. Er hat gesehen, wie sie Frank zusammengeschlagen haben. Nur weil er ein paar Bierdosen aus dem Mülleimer gezogen hat. Das hier ist ihr Revier, sagen sie. Mit hier meinen sie alle Stadtteile rechts und links vom Rhein, die zwischen Zoo- und Severinsbrücke liegen. Frank hat sich danach aus dem Staub gemacht. Ist wohl in die Randbezirke gezogen. Martin hat nie wieder von ihm gehört.
Das reicht, entscheidet er und stopft eine Wasserflasche in den linken Plastiksack. Der Gewinn reicht für Wein, Käse, Brot, Obst, Wasser, eine Tafel Schokolade. Damit verbringt er einen herrlichen Tag in seinem Schwalbennest, um die Wolken zu beobachten.
Am Himmel zieht ein Flugzeug vorbei. Martin schaut hinauf und lächelt. Die Erinnerung ist sofort wieder da. Vor sieben Monaten hat er sich einen Traum erfüllt. Ist von Köln nach München geflogen. Fast ein Jahr hatte er dafür gespart, aber der Flug war jeden