„Woher soll ich das wissen?“ Alex atmete schwer durch. „Aber ist doch auch egal, oder? Er ist meschugge. Wen interessiert da schon ein Widerruf? Deshalb machen wir auch keine Vernehmung, sondern nur eine Befragung. Die hat weiter keinerlei Stellenwert … Was ist? Warum guckst du so?“
„Weiß nicht.“
„Was weißt du nicht?“, fragte er und verzog das Gesicht.
„Was passiert, wenn er uns jetzt etwas anderes erzählt?“, bohrte Kathi weiter. „Ich meine, wenn er das Bedürfnis hat, mit der Wahrheit herauszukommen? Ich habe seine Akte gelesen und fürchte, dass er …“
„Wahrheit? Was ist für den schon die Wahrheit? Er erzählt heute so und morgen so“, witzelte der Hauptkommissar. „Ihm zu glauben oder nicht, ist nicht wichtig. Er erzählt nur, um etwas zu erzählen, weil er sonst nichts anderes zu tun hat. Schon deshalb ist seine Aussage nichts wert, denn er ist verrückt. Nicht zurechnungsfähig, verstehst du? Das haben wir amtlich. Es kommt allein auf den Hintergrund an, auf mögliche Veränderungen in seinem Wesen, die im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen ein neues Bild ergeben könnten. Was ich aber, ehrlich gesagt, kaum erwarte. Dafür kenne ich ihn zu gut. Wir können es also locker angehen. Die Öffentlichkeit ist beruhigt und die Justiz tut, wozu sie verpflichtet ist. Aber mal unter uns: Glaubst du wirklich, irgendjemand hat noch ein Interesse daran, diesen Schlamm wieder aufzuwühlen? Das alles ist nur eine Art Schattenboxen, mehr etwas für die Akte oder für Azubis wie dich.“ Er zwinkerte ihr schalkhaft zu.
„Für die Akte?“, wiederholte sie verwundert.
„Ja – und jetzt stell’ dich nicht so an!“ Seine Stimme nahm an Schärfe zu. „Wir machen des Öfteren etwas für die Akte. Meinst du, ich finde das immer gut? Aber soll ich dir was verraten? Das ist das Vernünftigste. Also werden wir auch hier mit angezogener Handbremse fahren. Denn wer nichts macht, kann nichts falsch machen, hehehe.“
Kathi glaubte, sich verhört zu haben. Also fragte sie nach einer Weile mit unterdrücktem Trotz, warum man dann überhaupt noch dorthin fahre, wenn es ohnehin belanglos sei.
„Wir sind hier doch nicht beim FBI“, ereiferte Alex sich erneut. „Es geht allein um die Verwaltung, damit alles seine Richtigkeit hat. Immerhin leben wir in einem Rechtsstaat und dort besitzt eine Eruierung vor Ort noch immer einen höheren Stellenwert als eine fernmündliche Aktennotiz. Also fahren wir hin und befragen, oder genauer, unterhalten uns mit ihm, auch wenn es nur wenig nützt. Aber wenn ich dir aufzähle, was ich schon an Nutzlosem getan habe, würdest du mich sicher für bescheuert halten. Doch so ist das nun mal. Wir werden nicht dafür bezahlt, den Wert einer Maßnahme zu beurteilen, sondern diese optimal durchzuführen.“
Kathi hatte Mühe, sich zu beherrschen. Dennoch konnte sie sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, indem sie anmerkte, dass sie dann nichts weiter als Büttel seien.
„Was soll dieser Unsinn?“ Abermals echauffierte er sich. „Du wirst recht schnell begreifen, dass es nach jeder verflogenen Anfangseuphorie sehr bald nur noch um reinen Pragmatismus geht. Erst wenn alle romantischen Fragen geklärt sind, gelangen wir zum Kern … Versteh’ doch – für diesen Mann ist die Wahrheit bedeutungslos, weil er sich in seiner Welt eingerichtet hat und sich darin wohlfühlt. Wir wären schlecht beraten, daran etwas zu ändern. Solange darüber Zufriedenheit herrscht, ist doch alles gut … Sein Name ist übrigens Bertold Wittenburg, Professor Bertold Wittenburg. Auf diese Anrede legt er großen Wert. Ansonsten bitte auf kein Frage-Antwort-Spiel einlassen … Am besten, du hältst dich zurück und lässt mich machen.“
Kathi war entsetzt. Nicht genug, dass sie seine laxe Haltung schockierte. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Von wegen, ‚gewöhnliches Frage-Antwort-Spiel‘ und ‚lass mich mal machen‘. Seine Geringschätzung war unerträglich. Zudem störte sie seine bevormundende Art.
Auch wenn sie noch keine konkrete Vorstellung von ihrem Praktikum besaß, erwartete sie doch Unvoreingenommenheit und Fairness. Deshalb hatte sie sich ja auch für dieses Kommissariat entschieden.
Immerhin ging es hier um keine sogenannten ‚Pillepalle-Fälle‘, wie einen Ladendiebstahl in Höhe von zwanzig Euro. Mord und Totschlag waren ihr gerade recht und je verfahrener die Kiste, umso besser. Am liebsten wäre ihr ein aktueller Fall gewesen, an dem man sich die Zähne ausbeißen konnte, jedoch keiner, der bereits abgelegt war.
Nun aber eine solche Ernüchterung zu erleben, war frustrierend. Dazu noch dieser oberschlaue und zugleich demotivierte ‚Vortänzer‘.
Mochte er sich noch so sehr in enge Hemden zwängen oder mit eingezogenem Bauch vor ihr posieren. Das machte auf sie keinerlei Eindruck. Im Gegenteil. Es gab nichts Lächerlicheres als einen alternden Macho, der sich in seiner Wirkung überschätzte.
Zwar war er optisch nicht unbedingt abstoßend, aber auch nicht sonderlich anziehend. Er erschien ihr einen Hauch zu selbstverliebt. Zudem wirkte sein Lächeln zu aufgesetzt. Nein, er war nicht das, wofür er sich hielt, nicht mal im Ansatz. Dafür war er viel zu spießig und von sich eingenommen. Er lachte zu den eigenen Possen am lautesten und war offenbar auch schnell beleidigt.
Sie wunderte sich über ihre Gedanken. Für einen Moment erwog sie allen Ernstes, vom Referatsleiter eine neue Aufgabe zu erbitten. Doch das wäre unklug. Man könnte sie für nörglerisch halten und womöglich mit einer noch anspruchsloseren Aufgabe betrauen. Davon gab es hier reichlich. Außerdem war es unrealistisch, in ihrer Position Forderungen zu stellen.
Also beschloss sie zurückzustecken, wenn auch mit Bauchweh. Ihr Ziel war ein gutes Praktikum mit der Hoffnung auf möglichst viele Referenzen.
Ihr Vater hatte sie schon zu Lebzeiten von der Teilhabe des familiären Kelterbetriebes ausgeschlossen. Standesgemäß fiel das Erbe ihrem Bruder Claus-Alfred als Stammhalter zu. Danach folgte ihr neun Jahre jüngerer Bruder Roman, der heute sein Leben in einer Bank als Sachbearbeiter fristete.
Sie als Tochter bekam vom Vater hingegen einen Job als Erzieherin in einem Kindergarten vermittelt, was ihrem Wesen eher entspräche, wie er sarkastisch anmerkte. Das kam natürlich nicht infrage. Täglicher Lärm, ständiges Windelwechseln und Albereien auf den Knien. Was für ein Albtraum.
Seitdem Kathi vorzeitig auf ihr Erbe gepocht hatte, um als Franchise-Unternehmerin einen eigenen Fair-Trade Laden zu eröffnen, hatte sie sich mit ihrer Familie überworfen. Ihr alter Herr wollte ihr sogar den Adelstitel absprechen. Doch dazu war es wegen seines Todes dann nicht mehr gekommen.
Am Ende fand sie ein neues Ziel in einem Jurastudium in der Landeshauptstadt Kiel. Hier fühlte sie sich wohl. Und ihrem Steckenpferd – die menschliche Psyche – kam es auch entgegen.
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Im Sicherheitstrakt
Mittlerweile waren sie angekommen. Alex stellte das Auto umständlich und mit großem Trara auf dem Besucherparkplatz ab. Maßlos regte er sich über das Wachpersonal auf, weil man ihnen den Dienstparkplatz verweigerte.
Schließlich sei man nicht zum Spaß hier und verfüge über einen Dienstauftrag, blaffte er die Bediensteten an. Dabei wedelte er mit seiner Dienstmarke herum und kündigte ein Nachspiel an.
Es folgten noch einige Kraftausdrücke, bis er allmählich wieder runterkam. Nun drückte er Kathi den Laptop in die Hand, nahm aber selbst nur die leichtere Schreibmappe. Forsch schritt er voran, dabei auf Abstand bedacht.
Am Zugangstor gab ihr ‚Vortänzer‘, wie er sich ironisch nannte, den Code ein. Dabei postierte er sich aber so, dass seine Begleiterin nichts sehen konnte. Überhaupt gab er sich mit einem Mal sehr förmlich und all seine vormals vorgetragene Laxheit schien wie verflogen.
Mit einem Summen öffnete sich die Tür und gab den Weg zur Schleuse frei. Spätestens hier zeigte sich, dass das Gebäude mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet war.