König Dorian und seine Frau Amber rührte das Schicksal dieses jungen Mannes ebenfalls, doch guter Rat war nicht in Sicht. Der König berichtete, dass es nur ein einziges Mittel zur Rettung gäbe, es aber unmöglich sei, es zu beschaffen. ‚Sag mir, was es ist, und ich werde es für ihn besorgen, Vater‘, beschwor ihn Aldiana. ‚Ich habe Malcolm aus seiner Welt gerissen; es ist meine Pflicht, ihn zu retten, koste es was es wolle.‘ ‚Das ist sehr edel von dir, meine Tochter‘, erwiderte der König, ‚doch es steht nicht in deiner Macht, ihn zu erlösen. Nur die Träne der Meeresprinzessin, die ihn in die Unterwasserwelt gelockt hat, kann seine Lunge zurückverwandeln.‘
Aldiana öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Meermenschen konnten nicht weinen; sie besaßen keine Tränen, konnten sich nicht einmal vorstellen, was das sein sollte. Es war tatsächlich hoffnungslos. Bedrückt begab sie sich zurück zu Malcolm, um für den Rest seines Lebens über ihn zu wachen und ihn zu behüten. Vielleicht würde er sich eines Tages mit seinem Schicksal abfinden und doch noch als Bewohner der Wasserwelt glücklich werden? Sie würde alles für ihn tun.
So saß Malcolm wie zur Statue erstarrt auf seinem Felsen, starrte mit leerem Blick in die Weite, aß nicht mehr und sprach nicht mehr. Die Tage vergingen, wurden zu einer Woche und einer zweiten. Nichts konnte Malcolm aus seiner Verzweiflung reißen. Dann brachten die Wellen eines Tages ein Stück Stoff zu seinem Felsen. Die Meermenschen schenkten ihm keine große Beachtung, so etwas geschah häufiger. An der groben Herstellung des Tuches konnte man erkennen, dass es menschengefertigt war. Nur Malcolms Aufmerksamkeit wurde plötzlich erregt, der den Stoff mit den Augen verfolgte. Das Tuch erinnerte ihn an Liana, seine Freundin. Wie es ihr wohl erging? Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon unter Wasser gefangen war. Ihm kam es wie Jahre vor. Gespannt beobachtete Aldiana, wie Malcolms Arme in Bewegung gerieten, als er nach dem Schal griff und ihn an sein Herz drückte. Seine Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nie zuvor hatte Aldiana etwas so Bedrückendes und gleichzeitig so Bewegendes gesehen. Plötzlich fühlten sich ihre Augen an, als wäre Sand hineingeraten. Sie brannten, schienen überzuquellen. Aldiana rieb in ihnen … und hielt zu ihrer großen Verwunderung eine wunderschöne Perle in der Hand. Seit wann drangen Perlen aus ihren Augen? Dann verstand sie: Der Anblick des trauernden Malcolm hatte sie so sehr gerührt, dass sie weinen konnte, und die Perle war die Träne einer Meerestochter. Vorsichtig schwamm sie mit Malcolm zur Wasseroberfläche und hoffte innständig, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Als sein Kopf aus dem Meer auftauchte, rang er nach Luft und vollführte hektische Bewegungen, doch dann hörte sie ihn zu ihrer Erleichterung atmen. Sie begleitete ihn an den Strand, auf den er sich erschöpft fallen ließ und beobachtete ihn noch eine Weile; sie wollte sicher sein, dass es ihm gut ging. Dann entschuldigte sie sich beschämt, sagte, wie leid ihr alles täte, und wie sehr sie sich wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit zur Rettung ihres Reiches gegeben. Ihre Aufrichtigkeit und ihr offensichtlicher Kummer beschwichtigten Malcolm ein klein wenig. Doch wusste er nicht, ob er ihr den Verrat an ihm jemals verzeihen würde. Aldiana übergab ihm die kostbare Perle als Dank des Meervolkes und verschwand in den Fluten.
Jason wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Heulen war uncool, wenn man keine Perlen weinte. Dieses Ende seines Märchens hatte er noch nie gehört. War Aldiana nun gut oder böse? Konnte jemand beides zu gleicher Zeit sein? Doch es sah so aus, als würde er heute keine Antwort mehr auf diese Frage erhalten, die ihn gerade so sehr beschäftigte. Es war spät geworden, und Sarah schickte ihn ins Bad, damit er sich fürs Bett fertig machte.
Gefährliches Unterfangen
In dieser Nacht schlief Jason sehr unruhig. Er war aufgewühlt, denn bisher hatte er Aldianas Geschichte immer nur in kleineren Abschnitten gehört. Die Kraft des Gesamtwerkes mit seinem neuen Ende erschütterte ihn und zeigte ihm sein Meermädchen in einem anderen Licht. Er wusste nicht mehr so genau, was er von ihr halten sollte.
…Aldiana sitzt auf ihrem Felsen. Die Sonne lässt ihr rot-blondes, hüftlanges Haar wie Kupfer glänzen. Sie scheint auf den Menschen zu warten, der ihr im Krieg gegen die grausigen Drachenfische Beistand leisten wird. Da, jetzt winkt sie jemandem am Ufer zu. Die Gestalt ist nicht zu erkennen. Sie scheint klein zu sein. Auf einmal weiß Jason, dass er dort am Strand steht. Soll er zu Aldiana schwimmen? Sie kann nicht ihn meinen; er ist doch nur ein Kind und hat nicht die Macht, ihr Reich zu verteidigen. Sie winkt erneut. Der Wind trägt ihre helle, wohlklingende Stimme übers Meer. ‚Du bist unser Retter‘, singt sie, ‚wir warten voller Hoffnung auf dich. Nur du kannst unser Volk befreien, und wir werden deine Heldentat niemals vergessen.‘
Diesem magischen Gesang kann Jason nicht widerstehen, und er stürzt sich ins Wasser, dessen Eiseskälte ihm den Atem nimmt. Damit hat er nicht gerechnet; das Meer ist sonst wesentlich wärmer. Im selben Augenblick, als er um Luft ringt, stürzen sich die Drachenfische auf ihn. Er ist in einen Hinterhalt geraten.
Aldiana schwimmt mit einem Haifischgrinsen auf ihn zu. Ihr Gebiss besteht plötzlich aus dolchartigen Zähnen, die sie, wie die Drachenfische, nach vorne klappen kann. Mit rauer, barscher Stimme weist sie ihre Verbündeten an, Jason nicht zu verletzen oder gar zu töten. Er gehöre ihr allein. Nur ihr stehe es zu, sich an ihm für seinen Verrat zu rächen. Jason wehrt sich vehement gegen den brutalen Angriff der Drachenfische…
Er strampelte wie ein Wilder und wachte auf, als er mitsamt Bettdecke, in der er sich verheddert hatte, aus dem Bett fiel. Immer noch hieb er mit den Fäusten auf seine Gegner ein, bevor er merkte, dass er in die Luft schlug. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich aus seinem verwirrenden und beängstigenden Traum befreien konnte.
Es wurde bereits hell im Zimmer; die Morgendämmerung war schon heraufgezogen. Jason legte sich wieder hin, versuchte, noch ein wenig zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Kurz darauf stand er auf, denn er hatte einen Plan gefasst. Leise suchte er seine Badehose und zog sich an. Er wusste, dass er nicht trödeln durfte, denn seine Großeltern waren meist Frühaufsteher. Wenn sie ihn erwischten, war es mit seinem Vorhaben vorbei.
Er schlich sich aus dem Haus und ging zum Meer hinunter. Er war sich sicher, dass Aldiana ihn erwarten würde. Er musste mit ihr sprechen, musste herausfinden, ob sie eine hinterhältige, böse Nixe war, statt des sanften, schönen Meermädchens. Vielleicht war er, Jason, immer ihr Retter gewesen und Opa hatte sich mit Malcolm geirrt? Vielleicht würde Aldiana grausam und verbittert werden, wenn er sich mit der Hilfe noch mehr Zeit ließ, ihren Ruf nach Beistand nicht verstand? Am Strand angekommen setzte sich Jason in den Sand und hielt Ausschau. Von Aldiana keine Spur. So saß er und wartete. Wahrscheinlich waren seine Großeltern mittlerweile aufgestanden. Hoffentlich hatten sie seine Abwesenheit noch nicht entdeckt. Wenn Aldiana sich nicht bald zeigte, würde es zu spät sein.
Das Wasser glitzerte bereits in den ersten Sonnenstrahlen, als er sie endlich sah. Sie saß genau auf dem Felsen, auf dem er sie gestern erwartet hatte. Sie war so schön, wie auf Omas Bildern, umrahmt von ihren hüftlangen kupferroten Haaren und mit ihrem Fischschwanz, der tatsächlich in allen Farben des Regenbogens schillerte. Aldiana winkte ihm zu. Ihr Lächeln war so offen und freundlich, dass sie unmöglich böse sein konnte. Jason zog sich bis auf die Badehose aus und ging ins Wasser. Das Meer war kälter als gewöhnlich, doch lange nicht so eisig, wie in seinem Traum. Er war für sein Alter ein guter und ausdauernder Schwimmer, doch er schwamm und schwamm, und der Felsen wollte einfach nicht näher rücken.
Im Haus waren seine Großeltern, wie vermutet, kurz zuvor aufgestanden und hatten sich an den Frühstückstisch gesetzt. „Jason ist heute eine Schlafmütze“, sagte Liam gerade zu Sarah. „Kein Wunder“, antwortete sie, „er hatte gestern einen anstrengenden Tag.“ „Ja, man wird nur einmal fünf“, witzelte Liam. „Ich schau mal nach, ob er schon wach ist.“ Mit diesen Worten stieg er die Treppen zu Jasons Zimmer hoch und öffnete leise die Tür. Dann sein Schrei: „Sarah, der Junge ist weg!“ „Wie, weg? Was meinst du mit weg? Er kann doch nicht weg sein!“ „Aber ja, er ist weg, wenn ich es doch sage!“ „Schau im Bad nach, bestimmt ist er dort!“ „Nein, hier ist er auch nicht!“ Nun wurde auch Sarah nervös. Wo um Himmels Willen steckte Jason?
Sie suchten das ganze Haus und den Garten ab. Nichts, nirgendwo