Die Vorstellung ist das Ende von Nijinskys Karriere, denn an ergebnisorientierte Trainings- und Probenarbeit ist nicht mehr zu denken.
Seine Liebe zum Tanz, die ihn eine Zeit lang getragen hat, ist seiner Psychose unterlegen; sein verzweifelter Kampf, sich durch die künstlerische Auseinandersetzung seine geistige Gesundheit zu erhalten, gescheitert. Nachdem er aus der Dunkelheit seiner Seele nach 26 Jahren wiederauftaucht, malt und zeichnet Nijinsky und wird Gastlehrer für junge Talente wie Serge Lifar. Sein eigener Weg als Künstler aber ist beendet.
London 09. April 2015, Teil I
Ich habe das Theater aus dem Leben heraus begriffen. Ich bin keine Erfindung. Ich bin das Leben. Theater ist Leben. Ich bin das Leben.
Vaslav Nijinsky
Ungläubig starrte Jason Waterstone auf die Bühne, während es ihm vor Zorn und innerem Aufruhr die Sprache verschlug. Die Vorhänge waren nach seinen Wünschen angebracht, desgleichen die Projektionsfolie für die Übertragungen seiner Video-Künstlerin Emily. Das Bühnenbild, bestehend aus dem großen Tauchtank mit den gläsernen Wänden und dem hohen Felsen dahinter, war ebenfalls aufgebaut, doch enthielt der Behälter trotz Probenbeginns kein Wasser. Er war leer, einfach leer.
Von den Mitgliedern seiner Company war er, wie immer der Erste am Probenort. Er brauchte Zeit mit dem ruhigen, unbelebten Raum, bevor er mit Menschen, Bewegungen, Musik und Geräuschen gefüllt wurde. Er wollte dessen Stille in sich aufnehmen, um sich auf ihn einlassen, mit ihm eins werden zu können. Als Tänzer und Choreograph arbeitete er nicht nur mit Schrittmaterial und Musik, sondern auch mit der Beschaffenheit seiner Spielstätte, die er in sein Werk integrieren musste, um eine harmonische Einheit aus Tanz, Zeit, und der räumlichen Begrenzung zu gestalten.
Obwohl er die Bühne seines Theaters kannte, veränderte sie sich bei jedem neuen Stück durch unterschiedliche Kulissenaufbauten, strahlte eine andere Atmosphäre aus, brachte neue Synergien. Doch mit seiner meditativen Sammlung vor Probenbeginn war es nun vorbei.
Wie sollte er arbeiten, wenn seine Solistin nicht im Tank schwimmen konnte? Sein Groll wuchs. Zwei lange Jahre hatte er für sein Projekt gekämpft, sich über alle Widrigkeiten und Bedenken seitens seines Intendanten Arthur Miles hinweggesetzt und mit seinem Sponsor Harris Sinclair verhandelt, um allen Unkenrufen zum Trotz sein größtes Werk, das Meisterwerk seiner bisherigen Laufbahn, zu verwirklichen. Und nun wurde er sabotiert. Doch von wem?
Ein Verdacht keimte in ihm auf, aber das würde er ihnen nicht durchgehen lassen. Er war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Sie würden ihn kennenlernen und spüren, mit wem sie es zu tun hatten.
Im Sturmschritt erreichte er das Büro seines Intendanten, versicherte sich hastig, dass Sonnenbrille und Wollmütze, die ihn vor dem Ideendiebstahl seiner Kollegen schützten, richtig saßen, dann stand er, ohne anzuklopfen im Zimmer.
Arthur Miles, ein mittelgroßer, drahtiger Mann in den Vierzigern, zuckte zusammen, als seine Tür aufflog. Konsterniert blickte er von seinem Computer auf und erblickte seinen Ballettdirektor. Wer sonst sollte auch einen derart vehementen Auftritt hinlegen, dachte Miles resigniert.
Und wie Jason wieder aussah. Eigentlich war er ein gutaussehender, hochgewachsener, schlanker Mann mit hellbraunem, welligem, dichtem Haar und ausdrucksstarken, intensiven braunen Augen, aber in letzter Zeit wirkte er ausgebrannt und irgendwie verwildert. Und wieso, um alles in der Welt, trug er an einem trüben, schon recht warmen Frühlingstag Sonnenbrille und Wollmütze?
Sein Ballettchef war der beste Mann, den er seit dessen Beginn als junger Tänzer jemals unter Vertrag hatte, doch seine Marotten wurden immer schlimmer, waren kaum noch tragbar. Seit er sein Stück Meermädchen inszenierte, häuften sich die Klagen über ihn. Er war launisch und unberechenbar geworden, und das Ensemble verweigerte nur deshalb die Zusammenarbeit nicht, weil es sich an die guten Zeiten mit ihm erinnerte, ihn deshalb nicht im Stich lassen wollte. Und weil er unbestritten der größte Tänzer und Choreograph seiner Zeit war. Miles Sorgen wurden gerade durch Jasons Erscheinen in seinem Büro nicht zerstreut, sondern eher verstärkt.
Es fiel in Miles Verantwortungsbereich, dass die Stücke im Programmheft bis zur Premiere ‚standen‘, wie es so schön im Theaterjargon hieß; doch das Ballett seines Chefchoreographen bereitete ihm Kopfzerbrechen. Und nun lief Jason in besorgniserregend desolatem Zustand vor ihm auf und ab, machte einen wirren Eindruck. Zerstörte ihn sein Ehrgeiz oder nahm er etwa wieder Drogen? Fragen, die Miles in Unruhe versetzten, seine beklemmenden Vorahnungen nicht besänftigten. Wahrte Jason überhaupt noch eine professionelle Distanz zu seiner Arbeit? Eigensinnig hatte er sich geweigert, seinem Stück einen Namen zu geben, hatte darauf bestanden, es mit dem Arbeitstitel Mermaid–Meermädchen im Programmheft aufzunehmen.
Sollte er ihn nach Hause schicken, ihm eine kurze Auszeit verordnen? In vier Tagen war Premiere. Er, Arthur Miles, war Intendant des berühmten Londoner Two Pieces Theatre; eine erneute geplatzte Premiere wie im Jahr 2012 konnte und wollte er sich nicht leisten. „Was kann ich für dich tun, Jason?“, fragte er besorgt und fuhr sich mit der Hand durch sein blondes, welliges Haar.
„Wie du wissen solltest, Arthur, haben wir in vier Tagen Premiere, der Tank ist leer und das Füllen und Aufheizen des Wassers auf eine akzeptable Temperatur dauert seine Zeit“, platzte es aus Jason heraus. „Kann mir irgendjemand verraten, wie ich so proben soll? Wir hatten eine klare Planung, die für die Katz ist, wenn sich keiner in diesem Saftladen daran hält.“ Miles zog die Augenbrauen hoch. Nicht wegen des Ausdrucks ‚Saftladen‘, sondern aufgrund der Fakten. Wie konnte es zu dieser Panne kommen? Jason hatte recht; der Tank sollte längst mit Wasser gefüllt sein. Die Arbeiter hatten ihn deshalb am Tag zuvor schon früh aus dem Probenraum auf die Studiobühne umgezogen, um im Zeitplan zu bleiben. Diese Bühne im Nebengebäude war eigentlich nur ein sehr großer Raum, in dem eine Teleskoptribüne die Zuschauerplätze in Rängen nach oben führte. Je nach Platzbedarf des Stückes konnten mehr oder weniger Ränge aufgebaut werden, sich so den jeweiligen Ansprüchen flexibel anpassen. Es gab viele Möglichkeiten, die Bühne durch Trennvorhänge abzuteilen, was sie für experimentelle Projekte prädestinierte. Aus diesem Grund hatte sie Jason sicherlich auch bevorzugt. Aber warum, verflixt noch eins, war der Acryltank leer?
Doch noch ehe Miles zu einer Antwort ansetzen konnte, brüllte Jason: „Steckt Harris Sinclair dahinter? Hat er die Gelder gestrichen, damit ich vor einem leeren Tank stehe und die Premiere platzen lassen muss? Er will meinen künstlerischen Ruin, will mich fertig machen, weil ich nichts von ihm will, seinem Baggern nicht nachgebe!“ Jason schäumte. Alarmiert beobachtete Miles ihn. Was war nur in ihn gefahren?
Harris Sinclair war der Hauptsponsor von Meermädchen. Ein erfolgreicher Investmentbanker, der seit Jahren einen Teil seines Vermögens in die Kunst investierte. Er fühlte sich dem Theater eng verbunden, wäre selber gerne Schauspieler geworden, doch lagen seine Talente eindeutig im Finanzwesen. Um seiner Passion trotzdem nahe zu sein, ließ er ein großzügig bemessenes Quantum ‚seines Talents‘ dem Theater zukommen; aus seiner Sicht eine Win-win-Situation.
Harris Sinclair war ein Mann Anfang vierzig, gebildet und herzlich, ohne erkennbare Anzeichen von homoerotischen Neigungen. Selbst wenn sie vorhanden sein sollten, würde Sinclair niemals wegen unerwiderter Gelüste eine Aufführung sabotieren. Die Werke, die er unterstützte, waren auch seine Babys. Was für einen Blödsinn spann Jason sich da zusammen? Ohne die noble Unterstützung seines Mäzens wäre Meermädchen nie umgesetzt worden. Die Gelder des Theaters hätten für Jasons aufwendige Inszenierungs-Pläne niemals gereicht.
„Jason, ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist, aber ich werde mich sofort darum kümmern“, versuchte Miles zu deeskalieren. Auf die haltlosen Anschuldigungen seines Ballettchefs ging er erst gar nicht ein, das führte zu nichts; es galt, ein ernsthafteres Problem zu lösen. Er würde Jasons Hirngespinste bei ihm belassen; sie hatten nichts